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Es ist immer erfreulich, wenn das langjährige Bestehen der Herrschaft mit schönen Geschenken bedacht wird. Die Arroganz und strategische Blindheit des russischen Regimes bescherte ausgerechnet zum 20-jährigen Putins Herrschaft Großartiges: Überflutungen und schwere Waldbrände (ca. 5 Mln. Ha laut Greenpeace) infolge jahrelanger Einsparungen im Irrigationssystem und anderer Infrastruktur; anhaltende Proteste gegen sich ausbreitende Müllhalden und kirchliche Großbauprojekte in der Provinz; abstürzende nukleargetriebe Raketen als adäquate Antwort auf beleidigende HBO-Serie über Tschernobyl; wachsende Verschuldung der Bevölkerung, die bei tendenziell fallenden Löhnen und Renten immer neue Kredite aufnehmen muss, um alte zu bezahlen (erste Hälfte 2018 betrugen die Kreditschulden 7 Trln. Rubel, sprich 7% des BIP). Vergessen wir nicht die Justiz und den aufgeblähten Repressionsapparat, die lange schon aufgehört haben, auch nur so zu tun, als würden Korruption und systematische Folter nur von einigen wenigen „schwarzen Schafen“ betrieben.
Nun hat das Moskauer Wahlamt ein popeliges Wohlstandsproblem zu einem nationalen gemacht: es geht um die Wahlen in den seit Jahren bereits dekorativen Moskauer Stadtrat. Vor etwa einem Monat, am 27. Juli hat es angefangen auf den Straßen zu brodeln und brodelte etwa drei Wochen lang. Es hätte die Provinz womöglich nicht gejuckt, es geht aber längst nicht mehr um diese Wahlen, das ist allen Beteiligten klar. Deswegen gingen am 9. August etwa 50 bis 60 Tausend Menschen auf die Straßen; Solidaritätsaktionen gab es in St. Petersburg, Ufa, Rostow auf dem Don, Syktywkar, Omsk, Tomsk, Brjansk, Jekaterinburg, Krasnodar, Samara, Chabarowsk, Orenburg, Nizhnij Nowgorod usw. Es geht nicht mehr um die Zulassung von OppositionskandidatInnen zu der Stadtratswahl, nicht mehr um die Freilassung der Gefangengenommenen bei den Protesten. Es gibt nichts mehr zum Schönreden und Reformieren. Rufe nach dem „regime change“ haben wir auch neulich in Jekaterinburg bei den Protesten gegen einen in der Bevölkerung vorbei geplanten Kirchenbau in einem beliebten Erholungspark vernommen.
2012 reflektierten wir das, was in Moskau passierte, folgendermaßen:
Die Proteste können nur zwei Optionen vor einem peinlichen (und sehr gefährlichen) Flop retten. Das plötzliche Auftreten einer charismatischen Figur, die alle politisch wie sozial unterschiedlichen Gruppen der Protestierende hinter sich einigen könnte. Was äußerst unwahrscheinlich ist. Oder: die Proteste werden der sozialen Dimension der politischen „Stabilität“ bewusst: dass etwa 60% der Bevölkerung in Armut leben, ein großer Teil von ihnen hat sehr wohl Arbeit, bekommt nur wie in den „wilden“ 90ern entweder einen mickrigen Lohn und/oder mit Verspätungen (http://nr2.ru/moskow/367036.html); dass demnächst die vor den Wahlen eingefrorenen Preise auf Benzin, Lebensmittel und kommunale Dienstleistungen weiter steigen; dass eine geplante Hebung des Rentenalters auf 70 Jahre angesichts der durchschnittlichen Lebenserwartung von 68,7 Jahren (nach OECD-Statistiken) nur noch zynisch ist; dass die übrig gebliebene Industrie und der Rohstoffabbau rücksichtslos die Umwelt zerstören; dass schließlich die ganze gigantische zentralisierte Infrastruktur veraltet ist, aber offensichtlich nicht rentabel genug für groß angelegte Investitionen scheint, was schlimmstenfalls bald zu schrecklichen technogenen Katastrophen führen könnte. Dass es andererseits einen Zuwachs an Arbeitskonflikten in der Industrie, Lebensmittelbranche und im Transportwesen gibt, Medizin und Bildung ziehen nach. Dass gestreikt inzwischen nicht nur aus Not wird, nicht nur wegen verspäteten Lohnzahlungen, sondern immer mehr für mehr Geld und bessere Arbeitsbedingungen. Dass der Arbeiterschaft anscheinend der noch in 90er Jahren so verbreitete Glaube an „den guten Chef“ ausgetrieben wird, dass deswegen etwa 40% aller Arbeitskonflikte spontan und ohne Unterstützung von offiziellen paternalistischen Gewerkschaften stattfinden. Hinzu kommen natürlich auch viele Umwelt-Initiativen, die bekannter sein dürften.
Wie gesagt, es wird der liberalen Opposition schwer fallen, mit diesen „Plebejern“ zu paktieren. Ohne sie werden die Proteste nicht bestehen – mit ihnen werden die Proteste sich grundlegend verändern, indem sie sich vom politischen Spektakel abwenden. Denn mit oder ohne Putin – ist für das Funktionieren des Systems nicht wirklich relevant. Dieses hat sich aber so weit in die Katastrophe hinein manövriert, dass es praktisch keinen Spielraum mehr hat. Was dann passiert, hängt von viel zu vielen unberechenbaren Faktoren ab.
Was wir damals nicht berücksichtigt haben, ist, wie sehr die ImperiumsbewohnerInnen kleine erfolgreiche Kriege mögen. Das verschaffte dem System Putin 2014 einen nötigen Aufschub. Weiterlesen →