Der Wecker scheppert. Ich atme durch, die kühle Luft schmerzt in der Kehle. Der Geschmack im Mund ist widerlich.
Draußen der Lärm vom Schichtverkehr. Also nicht verschlafen. Ich quäle mich hoch, gehe zum Fenster. Auf der Straße die Busse. Fahrradfahrer in dichten Pulks. Die Luft riecht heute bitterscharf mit einem Hauch Desinfizierer. Daher das Mundgefühl. Wer weiß, was sie über Nacht abgeblasen haben. Auf dem Tisch steht noch eine Handbreit Wodka. Ich setze die Flasche an. Das leichte Brennen im Hals schmeckt fast wie Geborgenheit. Auf alle Fälle besser als das, was zuvor mein Mund aushauchte.
Neben der Flasche noch ein Kanten vom frischen Vollkornbrot und Knoblauch. Frühstück. Ich beiße von beidem ab und ziehe mich an. Wir wollens mal nicht übertreiben. Immer abwechselnd, Brot, Flasche, Knoblauch.
Das Zimmer ist noch im Dämmerlicht der Straßenlaternen. Zwei Stühle, ein Schrank, ein Tisch, ein Bett. Also sehr überschaubar und kein Grund, mehr Licht anzumachen. Draußen schiebt sich ein flacher Nebel aus der Aue Richtung Verbindungsstraße, auf der der Verkehr langsam abebbt. Also bei Dreiviertel 6. Halb Sieben ist mein Schichtbeginn. Werde ich wohl überpünktlich sein. Und es wird Sprüche geben, was ich so zeitig da sei…
Die paar Hundert Meter bis zum Werkstor schlendere ich fast. Genieße es, Zeit zu haben, nicht hetzen zu müssen. Das kommt wahrlich nicht oft vor. So bleibt sogar Zeit für einen Blick auf die Vorüberradelnden. Sehe aber kein bekanntes Gesicht, was mich nicht verwundert. Die meisten aus meiner Brigade kommen durch andere Betriebstore.
An der nächsten Straßenecke kommt mir ein anderer Geruch entgegen. Irgendwas mit Sauerkraut. Senfgeruch? Könnte Dienstag sein. Also erwartet mich ein interessanter Feierabend. Da probt der Blues im HdJ. Fein. Muss ich morgen wohl wieder abbummeln.
Überstunden habe ich eh genug. Ziehe mir alles rein, was ich kriegen kann. So muss ich auf keine Party oder Band verzichten. Die Brigade mag mich drum. Ansonsten bin ich da wohl eher eine Merkwürdigkeit. Nicht, daß ich was gegen die Arbeit hätte. Die macht Spaß, die Brigade ist o.k. Aber wir arbeiten im Schnitt nur Dreidreiviertel Stunden am Tag. Der Rest wird irgend rumgebracht. Dazu ist mir meine Lebenszeit eigentlich zu schade. Abtauchen und Lesen ist auch nicht immer möglich.
Es könnte ja auch mal unverhofft Arbeit reinkommen. Und dann müssten die anderen meinen Teil mitmachen. Unschön.
An der Stechuhr ist keine Schlange. Der superpünktliche Herr Jungfacharbeiter stanzt sich seine erste 6:22 auf die Karte.
Stechuhren verband ich immer mit Kapitalismus. Seit ich hier arbeite, sind sie ein Sinnbild für Großbetriebe. Große Pulks grauer Wesen, die es zum Tagwerk zieht. Ewiges, unpersönliches Hamsterrad. Spuren von Mordor.
Die Umkleide ist eine hohe düstere Halle mit Reihen von Spinden. Daß ich meinen trotzdem immer leicht finde, liegt nicht an der spärlichen Beleuchtung und auch an keiner großen Besonderheit. Ist aber so. Die meisten leisten sich den Luxus eines zweiten Spindes. Denn abgesehen, daß alles irgendwie nach Kakerlakentod riecht, nimmt das Innere des Spindes schnell den Geruch nach glühendem Metall und Öl an und nach der Asche, die im ganzen Kraftwerk tanzt. Mal mehr mal weniger große Teilchen aber immer präsent. Alles bedeckt sie in Rieselhöhe. Die kleinste Erschütterung wirbelt alles auf. Also vorsichtig Treppen steigen. Nirgendwo anstoßen. Sonst hebt sich eine Wolke, die sich je nach auf- oder absteigender Luft hoch oder runter bewegt.
Da die Etagen nur durch Lichtgitterroste getrennt sind, war dies auch ein beliebter Streich gegenüber unliebsamen Personen.
Die Lichtgitterroste hatten auch den Effekt, daß sie aus den Augenwinkeln im rechten Winkel nicht wahrgenommen wurden. Dadurch entstand manchmal der schwindelerregende Effekt, ins Leere zu treten. Dem ließ sich durch den alkoholbedingten Tunnelblick entgegenwirken. Weiterlesen →