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„…den Entschluss zu fassen, die Freiheit zu denken“

Eine Hommage an Simone Weil

(aus dem Heft #14)

von Seepferd

Angeblich war sie das alles gleichzeitig: Anarchistin, Marxistin, scharfe Kritikerin von Marxismus und Anarchismus, politische Philosophin, Mittelschichtstochter, ungelernte Arbeiterin, Jüdin, Skeptikerin, katholische Mystikerin, Feministin, Pazifistin und militante Antifaschistin. Vermutlich konnte sie das alles sein – und zwar gleichzeitig –, weil sie nichts davon sein wollte. Nichts ausschließlich. Das muss man sich trauen. Vermutlich ist das auch der Grund, warum so wenige mit ihr was anfangen können. Die KatholikInnen zerren sie auf ihre Seite, die AnarchistInnen beanspruchen sie für sich. Die einen meinen, irgendwo in ihrem recht kurzen Lebenslauf „Brüche“ ausmachen zu können, wo und aus welchen Gründen sie sich vom sozial-revolutionären Engagement in die religiöse Kontemplation zurückgezogen hätte; die anderen betonen vielmehr die „Kontinuitäten“: die Rückbesinnung auf christliche Ethik würde dem Engagement für alle Unterdrückten dieser Erde nicht widersprechen. Das Bildungsbürgertum gedenkt ihrer in periodischen Abständen: Es ist ja längst kein Tabu mehr, ein wenig (selbst)ironisch über tote Revolutionäre und andere Verrückte zu sprechen. (1) Man (ge)braucht sie, ähnlich wie Albert Camus, zur Selbstvergewisserung, ohne angeben zu können, wessen man sich eigentlich vergewissert und wie ernst es gemeint ist. (2) Eine Kuriosität also, „rote Jungfrau“, weiblicher Nietzsche, durchgeknallt und letztlich für nichts nütze. Ich persönlich trage das Interesse an der Person Weil schon lange mit mir herum, es hätte womöglich ein Vortrag in den Räumen am Josef-Stangl-Platz in Würzburg werden können, doch dazu kam es nicht. Und das ist vielleicht besser so. Nun scheint es mir abseits von runden Daten und irgendwelchen Jubiläen angebracht, bei einer dermaßen unpraktisch veranlagten Person nach gesellschaftlicher Praxis nachzufragen.

Jedes noch so dünnes Büchlein über sie bzw. von ihr ist, wie z.B. „Anmerkungen zur generellen Abschaffung der politischen Parteien“, mit einer kleinen biographischen Notiz versehen. Es ist also bei ausreichendem Interesse nicht schwer, Simone Weil historisch und ideengeschichtlich einzuordnen. In aller Kürze also, obwohl ich es nicht schaffe, das unterhaltsamer als Antje Schrupp 2009 (3) oder Heinz Abosch 1990.

Simone Weil wurde 1909 in einem guten bürgerlichen Haus in Paris geboren, hatte jüdische Wurzeln, genoss gute Ausbildung und wurde schließlich Lehrerin für Philosophie. Interessierte sich für Politik und soziale Kämpfe, zeigte sich solidarisch mit Arbeitern und Arbeitslosen, was ihr den Ruf der „roten Jungfrau“ einbrachte. Sie trat anarchistischen Zirkeln und revolutionär-syndikalistischen Gewerkschaften bei und las kommunistische Zeitungen, stritt sich mit Trotzki und de Beauvoir. „Die Erfahrung hat gezeigt, dass eine revolutionäre Partei sich wohl, nach einer Formel von Marx, des bürokratischen und militärischen Apparats bemächtigen kann, aber sie kann diesen nicht brechen. Damit die Macht wirklich an die Arbeiter übergeht, müssen diese sich vereinigen, nicht nur entlang illusionärer Verbindungen, die von einer Ansammlung gleicher Meinungen ausgehen, sondern entlang wirklicher Verbindungen einer Gemeinschaft, die auf derselben Funktion im Produktionsprozess basiert“, schreibt sie Anfang 1930er gegen die Bestrebungen des Komintern, Gewerkschaften anzuführen. (zit. nach Jacquier 2006, S. 86) Gleichzeitig aber zutiefst individualistisch: „Denken wir daran, dass wir dem Individuum, nicht dem Kollektiv den höchsten Wert beimessen. (…) Nur im Menschen als Individuum finden wir Voraussicht und Willenskraft, die einzigen Quellen einer effizienten Aktion. Aber die Individuen können ihre Anstrengungen vereinigen, ohne dabei ihre Unabhängigkeit zu verlieren“. (zit. nach Jacquier 2006, S. 104)

Etwa um 1933 wendet sie sich von der schwächelnden syndikalistischen Bewegung ab und wird – nicht zuletzt Hitlers Machtübernahme unter der Mitwirkung der SPD und der Komintern vor Augen – zunehmend skeptisch, was Politik überhaupt angeht. Weiterlesen

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Wozu ist die linke Szene eigentlich gut?

von Jörg Finkenberger

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„Ich läugne die möglichkeit baldiger Revolutionen nicht. Wohl aber läugne ich, daß die Revolutionen von der 48er Demokratie gemacht werden können. Revolutionen werden nicht von der demokratischen Partei gemacht, vielmehr ist die Umsturzpartei oft nur erst ein Erzeugniß der Revolution. Revolutionen entstehen, wenn ein Lebensprincip, welches bis dahin die Stände und Staaten ordnete, sich zersetzt, und wenn die daraus folgende Unsicherheit sich den leitenden Kreisen mittheilt.“ (1)

Das schrieb einer, der über die „48er Demokratie“, die „Umsturzpartei“ von 1848 genug wusste, um von der Polizei dafür bezahlt zu werden, nämlich Edgar Bauer; er sass wie die anderen Radikalen im Exil in England, wo er mit Marx soff, sich prügelte und zerstritt,(2) und wo er dieselben unfassbaren Klatschgeschichten, Intrigen, kaum begreiflichen Allianzen und Zerwürfnisse der politischen Emigration zusammenschrieb, aus denen Marx das Buch „Die Grossen Männer des Exils“ gemacht hat, nur gegen Geld für die dänische Staatspolizei. (3)

Es reicht, dieses Buch z.B. zu überfliegen, um zu begreifen, was er meint. Diese Leute hatten alle irgend eine Rolle in der kurzen, aber heftigen Revolution gespielt, und sie meinten nun, ihre Handlungen wären die Ursache und nicht die Folge der Revolution gewesen. Aus der Revolution war insgesamt eh nichts geworden, und das lag natürlicherweise an dem schlechten Einfluss, der Schlaffheit, Verräterei und den unrichtigen Spezialideen der anderen Parteien unter der revolutionären Emigration, und nicht an dem guten Einfluss, der Vorsicht, klugen Taktik und den völlig richtigen Spezialideen der eigenen Partei.

Wenn man diese Leute so beissend beschreibt wie Marx, dann sehen sie unfassbar dumm aus. Aber man braucht gar nicht so viel Phantasie, um sich grosse Teile unserer heutigen linken Szene so beschrieben vorzustellen. Man bildet heute nicht mehr so rasch Exilregierungen hierzulande, aber die geschlagenen Teilnehmer unserer letzten Revolutionen, 1968 und 1989, mussten auch nicht ins Exil. Unter der 68er „Umsturzpartei“ jedenfalls gab es genug Narren desselben Formats; die Gründung einer sogenannten Kommunistischen Partei ist doch auch nichts anderes als der Anspruch, demnächst die Regierungsgewalt übernehmen zu wollen. Je realistischer, desto gefährlicher; je unrealistischer, desto lächerlicher; zwischen diesen beiden Polen bewegt sich der Irrsinn.

Die linke Szene in Westdeutschland vergisst es manchmal, aber sie geht in der Form, die sie heute hat, auf 1968 zurück, wenn auch auf verschlungenen Wegen; in Ostdeutschland ist es alles noch nicht so lange her, die Erinnerung ist noch nicht ganz so getrübt, alle grösseren Institutionen der Szene haben sich natürlich um 1989 entwickelt, und die meisten Leute leben noch. Die linke Szene ist „ein Erzeugniß der Revolution“.

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Es gibt natürlich vor den Revolutionen schon Personenzusammenschlüsse, mehr oder weniger öffentlich auftretende Gruppen, oder Milieus, in denen die Themen der späteren Revolution schon klarer erörtert werden als anderswo. Vor 1968 bestanden sie an den Rändern den SDS, der sogenannten Republikanischen Clubs der APO, den sozialwissenschaftlichen Fachschaften der Universitäten, der Gewerkschaftsjugenden; vor 1989 gab es die bekannten Kreise an den Rändern der Landeskirchen, die betrieblichen Gruppen innerhalb und ausserhalb der sozialistischen Partei, die Umweltgruppen und das Milieu der sogenannten Lesekreise. Irgendwo stellen irgendwelche Leute auf einmal Fragen, die vorher nicht gestellt worden sind, und tun sich zusammen zu gemeinsamer Aktivität, die vorher nicht getrieben worden ist, und zwar ausserhalb oder am Rande der Organisationen und der Institutionen.

Das auffällige ist, dass solche Gruppierungen erstens am Scheitelpunkt der Revolution wieder auseinanderzubrechen pflegen; ihre Produkte gehen neue Bündnisse ein, und diese Umgruppierung endet erst, wenn die Revolution vorbei ist. Und zweitens fällt auf, dass sie nie direkt aus den erstarrten Formen hervorgehen, die vorhergehende Revolutionsversuche zurückgelassen haben. Die Bewegung von 1968 etwa hat es ja auch im Osten gegeben; ihre Nachwirkungen lassen sich noch bis in die späten 1970er zeigen, wo sie dann aber anscheinend abreissen, jedenfalls nicht zu direkten den Vorläufern der 1989er Gruppen gehören. Und auch der Vorlauf von 1968 im Westen hatte sich auch nicht ohne Grund die Neue Linke genannt, um eine Welt verschieden von der alten Linken, der SPD und KPD.

Die jeweils bestehende linke Szene, ihre Organisationen, ihre Einrichtungen, ihre Ideen, Gewohnheiten und Forderungen sind vielleicht, unfassbarer Gedanke, gar nicht dasjenige, was die nächste Revolution antreibt, sondern sind die Endmoränen der letzten, die Anhäufung ihrer unerledigten Geschäfte, vielleicht auch ihrer überschüssigen Ideen, wer weiss, vielleicht sogar ihrer Irrtümer?

Und die gesellschaftliche Unruhe, die den politischen Prozess antreibt, solange er funktioniert; und die ihn auch irgendwann verstopfen, zum Stocken bringen, am Ende umstürzen kann, diese gesellschaftliche Unruhe ist vielleicht am Ende gar nicht etwas, das in der linken Szene stattfindet, ausgedacht, verursacht wird; sondern die linke Szene ist vielleicht nur selbst eine Auswirkung von ihr, auf gleicher logischer Ebene wie Alkoholismus, Suizidrate, Wirtshausschlägerei.

Die linke Szene nimmt in der Revolutionsgeschichte keinen privilegierten Ort ein im Vergleich zu den Kegelvereinen, Kirchengemeinden, Kindergartenvereinen und Belegschaften, oder allen anderen Orte, wo auch Leute zusammenkommen, die an sich gleichzeitig nichts und alles miteinander gemeinsam haben. Unter diesen Einrichtungen ähnelt die linke Szene am ehesten den Kirchengemeinden; ihr offizieller Zweck ist der Kultus eines Wesens, das nicht existiert; und die wenige nützliche Arbeit, das einzig sinnvolle an der Sache, gilt, wo sie getan wird, als Nebensache.

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Die Hauptsache, um die es der linken Szene unvermeidlich gehen muss, ist die Erhaltung ihrer eigenen Strukturen. Das ist nicht unvernünftig, diese Strukturen sind die einzige institutionelle Präsenz, die die Revolution in einer nicht mehr revolutionären Gegenwart hat. Aber der verstrichene revolutionäre Moment lässt sich nicht konservieren. Was an Organisierung auf dem Scheitelpunkt der Welle erreicht wird, in Ostdeutschland war es der Sommer 1989, überdauert die Gegenrevolution nur, indem es sich gegen die gesellschaftliche Konjunktur abschliesst. Es besteht weiter, aber als eigenes abgetrenntes Milieu.

Die linke Szene ist eine Gestalt des Rückzugs, nicht der Offensive. Die sich in ihr sammeln, sind die, die sich vor der gegenrevolutionären Gesellschaft zurückziehen. Sie bezieht ihre Organisierung notwendig auf sich selbst als auf ihren Zweck; und auf diese Weise fügt sie sich in die gegenrevolutionäre Gesellschaft konflikthaft wieder ein, als eine linke Subkultur. Was die Einfügung leichter macht, sind Musik und Alkohol. Jede neue Welle von jungen Leuten, die der gesellschaftliche Konflikt in Bewegung bringt, landet irgendwann hier; der Impuls, den sie mitbringen, bricht sich hier. Ihre Assimilierung und Integration geschieht durch dieselben Mechanismen der Identitätsbildung, mit der die Szene sich zusammenhält.

Die Identität hat nie von vorneherein bestanden. Sie muss ohnehin immer erst hergestellt werden. Es wird nicht eine langsame Entpolitisierung mühsam und durch immer erneute Anstrengung zurückgeschlagen. Die linke Szene ist kein Kampffeld, auf dem gegen Ermüdung und Resignation etwas zu holen ist. Sondern die linke Szene ist aus dem revolutionären Milieu entstanden genau in dem Moment, in dem dieses politisch ausser Kurs gesetzt worden ist. Der Ausschluss aus der Geschichte, aus der gesellschaftlichen Wirksamkeit, das ist die ursprüngliche Grundlage der Szeneidentität. Und die Anstrengungen, die sogenannte Entpolitisierung aufzuhalten, tragen von vorneherein den Charakter von Täuschung und Selbsttäuschung. Sie wiederholen und bestätigen den Ausschluss, die Isolation, aber diesmal mit eigenen Mitteln und aus eigenem Entschluss.

Und sie kreisen immer um die eigene Szene. Je mehr sich ihre inneren Debatten von der gesellschaftlichen Wirklichkeit entfernen, desto unnachgiebiger fordern die Standpunkte, die sich in ihr durchsetzen, unbedingte Zustimmung. Es entsteht ein Klima, in dem es unmöglich wird, Aussenstehenden zu erklären, um was es denn jetzt wieder geht. Die schütteln ungläubig die Köpfe und begreifen nicht. Die Insassen der Szene können sich eine Weile einreden, dass das daran liegt, dass sie soweit voraus sind; aber irgendwann kommt der Punkt, wo sie einsehen müssen, dass es nicht so ist; dass man sie nicht ernst nimmt. Das ist der Punkt, wo man versucht, wieder relevant zu werden, das heisst völlig das spinnen anfängt. Dann beginnt man, den verrückten Kram, in den man sich verrannt hat, in dem verrückten Kram wiederzuerkennen, den die normalen Leute sagen, und dann kann man sich einbilden, die Isolation der Szene durchbrochen zu haben. Es ahnt ja niemand, dass dieselbe Isolation auch zwischen allen einzelnen Menschen besteht.(4)

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Man kann z.B., wenn man absolut nicht weiss, wie man die solchermassen gewonnene Volkstümlichkeit betätigen soll, auf den altehrwürdigen Brauch verfallen, ein sogenannter Maoist zu werden. Was 1969 richtig war, kann heute nicht falsch sein. Die Leute vom SDS hatten mit eigenen Augen eine ungeheuere, aber letztlich unentschieden verlaufende gesellschaftliche Bewegung gesehen; und sie hatten, während sie von den Rändern mit Flugblättern und Aufrufen einzugreifen versuchten, sich für einen kurzen Moment einbilden können, dass sie in Wirklichkeit in deren Zentrum gestanden hatten. Nichts ist verständlicher als diese lächerliche und übergeschnappte Illusion. Wem es nie so gegangen ist, hat nichts gesehen.

Wenn die Praxis des philosophischen Seminars, der Kapitallesegruppe, der studentischen Vollversammlung schon diese Wirkung hat, an ganz anderen Orten der Gesellschaft ganz andere Menschen in Bewegung zu bringen, und auf solches magisches Denken läuft es hier hinaus, was für Wirkungen muss es dann erst haben, wenn man es wirklich darauf anlegt? Während die Bewegung in Wirklichkeit um sie herum zerfiel, liess sich in den K-Gruppen, die ab 1969 entstanden, die Illusion aufrechterhalten, die Sache würde stattdessen immer nur radikaler, zielstrebiger, entschiedener. Die Minderheit der bewussten Kader, die die letzte Bewegung hervorgebracht hatte, würde jetzt darangehen, die nächste, diesmal entscheidende Bewegung gründlich vorzubereiten, und diesmal würde sie sich nicht in Hörsälen und Seminarräumen von der Bevölkerung isolieren, sondern organisiert in festen Gruppen mit einer ausgearbeiteten Doktrin an ihre Spitze treten.

Es zeigte sich, dass die Bevölkerung keinen Bedarf nach dieser Führung hatte, weswegen etliche Kader der bewussten Minderheit sich noch Jahrzehnte später in aussichtslosen und undankbaren Jobs durchschlagen mussten, etwa als Staatssekretäre in der Regierung Schröder.

In ihrer eigenen Zeit haben die maoistischen Gruppen in der linken Szene ganz ähnliches Aufsehen gemacht wie ihre Neuauflagen von heute. Sie waren immer die radikalsten, jedenfalls in Worten; sie legten grossen Wert auf ihre straffe innere Disziplin, jedenfalls in Worten; und die verdreht Logik ihrer Doktrin erlaubte es ihnen, praktisch jeden beliebigen Standpunkt zu vertreten und nach Belieben wieder auszuwechseln. Das liess sie nur umso kühner, radikaler und entschiedener erscheinen, je schockierender und unsinniger diese Standpunkte in dem Rest der Szene, und in der gesamten Gesellschaft sich ausnahmen. Im Grunde haben sie die Logik, nach der die linke Szene heute noch funktioniert, perfektioniert, um nicht zu sagen geschaffen.

So sind sie für die zehntausenden jungen Menschen, die ihnen angehört hatten, eine hervorragende Schule des Opportunismus gewesen, der Unterordnung unter unberechenbar schwankende Direktiven, der Kreativität in der Lüge und der Fähigkeit, nach Bedarf alles zu glauben, was geglaubt werden soll. Und nach ihrer Auflösung, spätestens in den 1990ern haben sie diese schönen Züge der ganzen restlichen Linken grosszügig mitgeteilt.

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Ihr klassischer Stil aber wird erst neuerdings wieder geplegt. Der Schauer des Fremdschams, den Ausdrücke wie „Dem Volke dienen“ auslösen, ist kalkuliert. Hinter der plumpen Zudringlichkeit und hinter der gestellten Naivetät, mit der der Gebrauch des Wortes „Volk“ verteidigt wird, schlüpft unbemerkt die beabsichtigte Botschaft durch: das Versprechen von Herrschaft über ebenjenes Volk, versteckt unter der auftrumpfenden Demut des Wortes „dienen“.

Die linke Kritik an einer solchen Agitation tappt unvermeidlich in die klug gestellte Falle; man zerbricht sich den Kopf und verfällt auf die antinationale Kritik an dem Begriff Volk, zu dem man dann allerhand dazureimt. Das mag auch alles stimmen, aber die Hauptsache fehlt. Die Losung verspricht der maoistischen Gefolgschaft nicht volkhafte Echtheit, Erfüllung enfremdeter Sehnsüchte, was die antinationale Kritik so alles mit dem Wort „Volk“ verbindet; sie verspricht Herrschaft. Sie verspricht das perfekte Verbrechen; sie verspricht absolute Selbstherrlichkeit. Denn das „Volk“, von dem die Rede ist, in dessen Dienste man zu treten aufgefordert wird, ist keine organisierte Grösse; niemand ist da, der seine Diener zur Rechenschaft ziehen könnte, denn wer sollte das sein ausser seinen Dienern selbst?

Über die neuen Maoisten hört man viel schlechtes. Sie greifen Leute aus der linken Szene an, also sind sie Feinde der Linken; sie greifen schwule, lesbische, feministische, antifaschistische, antideutsche, studentische usw. Aktivisten an, also folgt notwendig, dass sie homophob, antifeministisch, pro-faschistisch, anti-intellektuell usw. sind. Das Problem ist nur, dass diese Logik nur innerhalb der linken Szene selbst verstanden wird. Die Maoisten greifen alle an, die sie angreifen wollen, einschliesslich der linken Szene selbst im Ganzen, und zwar gerade weil sie beanspruchen, die revolutionäre Linke selbst zu sein. Der Angriff ist die praktische Ausübung dieses Anspruchs, der Anspruch die Rechtfertigung des Angriffs, die Angegriffenen selbst sind ihnen Nebensache.

Kritik der Art, das sei „innerlinke Gewalt“, ist hilflos. Der Russische Bürgerkrieg war auch „innerlinke Gewalt“; die Linke ist niemals eine Einheit, sie ist eine verfeindete Vielheit, und über die Feindschaft wird so genau geschwiegen wie über die Revolution. Den Betrug, der die maoistischen Gruppen zusammenhält, befestigt man gerade mit solchen Phrasen. Der Betrüger stellt sich so als den ehrlichen Mann hin, ihm gegenüber eine Welt voller Betrüger, die ihn verleumden. Mit anklagendem Finger zeigt er auf den ganzen Rest der linken Szene: überall Halbheit, versteckt unter Phrasen; viel Gerede von Revolution und Kommunismus, aber alles, was geschieht, ist Beschäftigung mit sich selbst. Denn als wer tritt man auf, wenn man sich über innerlinke Gewalt beklagt? Als Fürsprecher des bestehenden Zustands der Szene, nicht als verletzte Einzelne. Das ist der Trick: schlage den einzelnen verletzbaren Menschen, zum Vorschein kommt der klagende Szenefunktionär. Die Leute, die den ganzen Haufen gegründet haben, haben sich vielleicht eine ziemlich raffinierte Masche ausgedacht.

Der neue Maoismus funktioniert nach keinem anderen Prinzip als die linke Szene selbst. Aber er sucht sich seine Dummen auf etwas andere Weise. Man muss sich nur einmal die sogenannte Auflösungserklärung des sogenannten Jugendwiderstands anschauen. Was denken Leute, die davor warnen, „bei einigen Massen Illusionen in Parlamentarismus, Passivität und Reformierbarkeit des Systems zu stärken“? „Einige Massen“! Man hat eine Steigerung gefunden, weil „die Massen“ noch nicht entfremdet genug dahergeschwätzt klingt. Was meint jemand, der „die Massen“ sagt? Er sagt: die einfachen Leute, die Führung durch eine bewusste Minderheit brauchen; oder wie es der Grosse Vorsitzende ausdrückte, „ein unbeschriebenes Blatt, auf dem man die schönsten Gedichte schreiben kann.“ Überflüssig zu sagen, dass die Maoisten ausser Revierkämpfen nichts machen, etwa „den Kapitalismus“ anzugreifen. Auch das haben sie vom Grossen Vorsitzenden gelernt, der den zweiten Weltkrieg von Chiang Kai Chek hat ausfechten lassen.

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Die linke Szene findet das alles natürlich nicht in Ordnung. Aber sie begreift den Kern der Sache nicht. Der Kern ist dreiste Hochstapelei. Um gegen die etwas auszurichten, müsste sie selbst etwas sein, was sie nicht sein kann: die Umsturzpartei; oder sie müsste aufhören, so zu tun, als sei sie sie. Sie funktioniert aber selbst nach genau demselben Prinzip der Hochstapelei. Es nimmt nur immer verschiedene Formen an.

Ganz andere Frage. Was ist z.B. ein Soli-Tresen, den eine linke Gruppe veranstaltet, um ihre Aktivitäten zu bezahlen? Meistens wird es darauf hinauslaufen, dass die Mitglieder der Gruppe selbst die einzigen sind, die kommen und Bier trinken. Die Solidarität, nach der das benannt ist, ist dann eine mit sich selbst, vermittelt durch Alkohol. Gar kein schlechtes Bild für die Lage. Man braucht dann noch einen Raum, Werbung, es steckt da schon Arbeit drin. Es wäre schneller gegangen, man hätte gleich zusammengelegt und dann alleine gesoffen. Aber wo bliebe da der eigentliche Vereinszweck, die Gemütlichkeit, die Gruppenbindung?

Eine etwas grössere Nummer sind die linken Läden oder gar Häuser. Der Betrieb und die alltäglichen Konflikte fressen soviel Zeit, dass von den linken Häusern selbst keinerlei Gefahr mehr ausgeht. Wenn man sie ordentlich betreibt, bleiben keine Kapazitäten mehr übrig, und wenn man sie nicht ordentlich betreibt, gehen sie pleite. Sie binden die zuverlässigsten Leute an ihre reine Erhaltung. Die linken Inhalte müssen, soweit Platz ist, dann separat von aussen eingespielt werden. Sie sind im besten Fall die Bühnen für die linken Gruppen aus der Szene um sie herum. Siehe auch: Solitresen.

Schliesslich die linken Gruppen! Es werden sich natürlich zuerst die falschen kritisiert fühlen, die nämlich, die richtige Arbeit machen. Diejenigen, die wirklich gemeint sind, dürften ja ganz gut selbst wissen, was sie sind und was sie tun. Jeder lacht über die Riesenmaschine der IL-Organisation, die Heerscharen von Leuten mit der Planung und Durchführung von Aktionen beschäftigt, nicht damit eine Arbeit getan ist, sondern damit man in die Nachrichten kommt und der Eindruck erweckt wird, dass man Arbeit tut. Damit zieht man Leute an, die man für den Betrieb der Riesenmaschine braucht. Wieviele Gruppen funktionieren nach demselben Prinzip?

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Natürlich ist das nicht alles, was gesagt werden kann. Natürlich produziert das alles nicht nur Unfug, sondern auch ab und an etwas Gutes. Nur ist, wie es Debord formuliert hätte, das Gute immer nur ein Moment des Schlechten; es finden sich in der linken Szene immer, auch unter den grössten Narren noch, Leute, die bereit sind, bei irgendwas vernünftigem mit anzufassen, und zwar viel mehr als ausserhalb der Szene. Man hat dabei immer nur das Gefühl, dass das damit zusammenhängt, dass die Leute aus der Szene ohnehin eher gewohnt sind, bei jedem erdenklichen Unfug mitzumachen, ohne gross nachzudenken.

Denn, warum wird dann das nutzlose Spektakel, die inszenierte Arbeit für den Zusammenhalt des eigenen Ladens, überall wirklich so gut angenommen? Warum, wenn diese Logik in der linken Szene nicht vorherrscht, ist dann folgende Geschichte nunmehr schon zum zweiten Male passiert: in einer deutschen Grossstadt meiner Wahl veranstaltet eine dort angesehene Gruppe der linken Szene anscheinend alle fünf Jahre einmal einen Vortrag zu ihrem Lieblingsthema in der 60 km entfernt gelegenen Nachbarstadt, weil ihr die dort in der Szene vorherrschende Ansicht missfällt. Zu diesem Zweck bucht sie Räume und fährt ihr Publikum mit Bussen dorthin. Der Einlass wird natürlich bewacht, damit nicht Leute aus der dortigen Szene zu dem Vortrag kommen. Anschliessend packt man zusammen und fährt gemeinsam mit dem Bus zurück.

Die Stadt ist natürlich Halle, die Gruppe die AG No Tears For Krauts, die Nachbarstadt Magdeburg, und das Thema ist „Solidarität mit Israel“, zu welchem Dr. Stephan Grigat lauter Dinge sagt, die das mitgebrachte Publikum schon weiss, und niemand anders zu hören bekommt. Überall, wo man diese Geschichte erzählt, wird man ausgelacht; „bei euch in Halle ist doch was im Leitungswasser“, sagen die Leute. Ausser die Antifa-Szene in Halle, da findet man das total richtig und wichtig, wahrscheinlich weil in Halle wirklich was im Leitungswasser ist. Das Beispiel ist sehr speziell, und ausserhalb von Halle gehören die Leute von dieser Partei eh nicht so sehr zur linken Szene, weil sie auch nirgendwo so viele sind. Aber grundsätzlich anders ist es doch nirgendwo. Überall gibt es die eine oder mehreren lokalen K-Gruppen, zu denen ein Teil der Szene ehrfürchtig aufblickt, bei denen mitmachen zu dürfen das Herz des Szenejünglings höher schlagen lässt, deren unsinnige Verlautbarungen ehrfürchtig diskutiert werden, und über die man in den anderen Städten lacht.

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Nicht in allen anderen Städten. „Zusammen Kämpfen“ aus Magdeburg, der Mutterstadt des neuen Maoismus, kündigen ihrerseits einen Vortrag mit den Worten an: „Was in Magdeburg undenkbar scheint, ist in Halle bittere Realität: Die Antideutschen drangsalieren die linke Szene. Dieser Vortrag sollte eigentlich in Halle gehalten werden, aber weil die Antideutschen und ihre Freunde in der Stadtpolitik mit Gewalt und Fördermittelentzug drohten, wurde er abgesagt.“ „Drangsalieren“ ist etwas übertrieben, aber „auf den Wecker“ gehen klänge nicht richtig, und noch weniger „irrationale Identitätsbedürfnisse erfüllen“.

Aber vielleicht ist mir etwas entgangen, denn das ZK scheint zu meinen, die „Antideutschen“ seinen gar keine Linken, sondern die „Bodentruppen des Imperiums“. Wer ist denn die linke Szene von Halle, die von den Antideutschen „drangsaliert“ wird? Wir erfahren: „die Sprecher der Antideutschen legen eine antimuslimische Rhetorik an den Tag, die große Schnittmengen mit den Verlautbarungen der AfD aufweist. Und auch die rassistischen „Identitären“ freuen sich über die Schützenhilfe aus dem antideutschen Lager.“ (5)

Ach so! Also das ist einfach. Wenn die „Sprecher der Antideutschen“ die sind, die daherreden wie die AfD, dann ist damit gemeint natürlich die AG No Tears For Krauts. Diese also sollen, heisst es weiter, die hallische Szene drangsalieren. Die hallische Szene ist aber selbst antideutsch. Die Sprecher der Antideutschen drangsalieren also die Antideutschen? Das hat nur eingeschränkt Sinn. Also schreibt die hallische Szene in Gestalt des OAP aus ihrer Drangsal folgendes an die magdeburger Szene zurück: wir würden ja gerne mit euch zurechtkommen, aber bei euch „besteht weiterhin eine Zusammenarbeit mit ZK. Bezüglich der autoritären Trottel, die die Magdeburger linke Szene dank ihrer Einschüchterungstaktiken seit Jahren dominiert (sic), hat sich in den letzten Monaten jedoch das ein oder andere Abgrenzungsbestreben gezeigt, was uns vorsichtig erfreut.“ (6)

Also die magdeburger Szene wiederum wird von dem ZK drangsaliert. Wo kommen diese Gruppen nur immer her, die derart eine Szene beherrschen? Die Szene produziert sie. Aber warum? Weil die Szene überall ganz genau so funktioniert, wie es hier seit 5 Seiten beschrieben wird. „Die befreite Gesellschaft kann man mit diesen Gruppen nicht erstreiten“, schreibt, und hier völlig zu Recht, das OAP Halle. Aber über wen? Und über wen nicht?

Alle wissen das über alle anderen, aber niemand will es über die eigenen Leute wissen. Alle Ideen in der Szene sind bis zum Schwachsinn aufgeblasene Spezialideen, die nur plausibel werden, wenn man sie mit den anderen gegensätzlichen schwachsinnigen Spezialideen vergleicht. Wenn das ZK nicht wäre! Dann könnte man ja mit den Magdeburgern zusammenarbeiten. Wenn die AG nicht wäre, dann würden die Magdeburger das vielleicht sogar auch wollen. Aber woran zum Teufel wollt ihr denn zusammenarbeiten? Ihr habt doch alle miteinander keine Ahnung, was ihr überhaupt tun sollt! Wenn es diese Gruppen, die euch „drangsalieren“, nicht gäbe, ihr müsstet sie glatt erfinden.

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Dabei hat das ZK völlig Recht: die AG redet wirklich dasselbe Zeug daher wie die AfD. Aber die AG wiederum hat auch völlig recht: das ZK verhält sich wirklich wie eine antisemitische Schlägertruppe. Das ist ja das Elend: sie haben beide Recht, sie sind beides Scheisskerle, mit denen man unmöglich zusammenarbeiten kann. Und beide sind authentisches Produkt und Schandfleck derjenigen Szenen, aus denen sie hervorgehen. Aber genau darauf beruht ihr Einfluss. Und genau deswegen brauchen sie sich. Solange die einen da sind, kriegt man die anderen ncht los.

Man kanns nicht halb haben. Die Krätze und die linke Szene hat man entweder ganz oder gar nicht am Hals. Aber es geht nicht mit ihr und nicht ohne sie. Und es wird nicht besser, sondern schlimmer werden, wenn die Unruhe des Gesellschaft zunimmt. Dann wird die Szene grösser, und je grösser die Szene, desto mehr potentielle Abnehmer für noch abstrusere Spezialideen; also je unruhigere Zeiten, desto beklopptere Doktrinen gewinnen überall selbständige Existenz als Szenepartei.

Wenn die Zeiten am unruhigsten sind, wird die Szene also logischerweise am übergeschnapptesten sein. Es gibt ja Leute in der Szene, die glauben, sie können das aussitzen und sich ruhig und gründlich vorbereiten. Auch das ist eine solche übergeschnappte Spezialidee. Sie werden natürlich immer nur ruhiger und gründlicher sich vorbereiten. Man kanns drehn und wenden, es wird nichts draus. Die linke Szene ist krank. Nicht nur die Welt, in der sie lebt. Oder besser gesagt: die linke Szene ist ein Symptom.

Wozu ist die linke Szene gut? Zu recht wenig. Kommt man ohne sie aus? Wenn man einmal drin ist, nicht. Braucht man sie? Wozu? Alles, was Sinn hat, wird ausserhalb des Szene getrieben. Von Leuten, die sich nicht weigern, mit Leuten zu reden, die nicht ihrer Meinung sind. Und die nicht erst die Meinung ihrer Gruppe einholen müssen. Und die sich nicht davor fürchten, dass die Szeneoberen missbilligen, was sie sagen, weil sie keine Szeneoberen haben. Und die sich nicht beeindrucken lassen davon, was jemand redet, bloss weil sie es nicht verstehen, sondern die vermuten, dass es Schmarrn ist, wenn es klingt wie Schmarrn.

Manche davon kennen die linke Szene gut, weil sie aus ihr davongelaufen sind. Manche stehen äusserlich zu ihr in Verbindung, weil sie ihre Infrastruktur brauchen. Wird das so bleiben? Das weiss man nicht. Aber das eine weiss man. Präzise in dem Moment, an dem sie diese nicht mehr brauchen, hat die Stunde geschlagen, wo der ganze Spuk sich auflöst wie Nebel in der Sonne.

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1 Edgar Bauer: Konfidentenberichte über die europäische Emigration in London 1852-1861, Hg. Erik Gamby, Schriften aus dem Karl-Marx-Haus Trier 38, Trier 1989, 101

2 Und sich beim Saufen zuletzt mit ihm zerstritt und ihm in die Fresse schlug, Gamby, Edgar Bauer, Junghegelianer, Publizist und Polizeiagent, Schriften aus dem Karl-Marx-Haus Trier 32, Trier 1985, 33, und damit die traditionellen Formalitäten begründete, die bei Zerwürfnissen in der linken Szene unbedingt einzuhalten sind.

3 Während Marx sich sein Manuskript bekanntlich dem ungarischen Emigranten Bangya gab, des es der preussischen Staatspolizei verkaufte. Später trat der in türkische Dienste und wurde im Kaukasuskrieg von den Tscherkessen als russischer Spion zum Tod verurteilt, MEW 12, 166; 557;

4 Willi Langthaler hat das, glaube ich, 2003 wunderschön ausgedrückt: der antiimperialistischen Linken sei es in der Antikriegsbewegung von 2003 endlich gelungen, zum „Massenbewusstsein“ „vorzustossen“. Die Idee dahinter ist wohl, dass die Linken und das Volk irgendwodurch voneinander getrennt sind, so dass das Volk die Linke nicht so recht hören kann, und dass in bestimmten Situationen diese Barriere instabil wird. Dann aber! Wenn es halt jetzt noch etwas wie das „Massenbewusstsein“ gäbe. Man muss sich immer wundern, wie diese Leute sich die Welt vorstellen. Wenn sie natürlich zugäben, dass die Isolation, in der sie sich und ihre Ideen finden, keine spezielle Isolation der Linken ist, sondern die hungsordinäre Isolation, in der alle Glieder der Gesellschaft von allen anderen Gliedern des Gesellschaft leben, müssten sie auch zugeben, dass ihre Ideen auch keine speziellen historischen Ideen sind, sondern nichts anderes als die ebenfalls hundsordinären Ideen, mit denen sich die Leute ihre Situation erklären und aufrechterhalten. – Langthaler musste sich von dem Vorsitzenden der KPÖ sagen lassen, dass es nicht die Aufgabe der Linken ist, zum Massenbewusstsein vorzustossen, sondern es zu verändern. Dass muss man mal schaffen, gegen einen Parteikommunisten Unrecht zu haben.

4a Die antinationale Kritik des „Volksbegriffs“ geht fehl, weil sie zwar allerhand von dem ernst nimmt, was Intellektuelle sich alles zu dem Wort „Volk“ haben einfallen lassen. Sie hat aber anscheinend nie begriffen, warum das so ist: weil nämlich „Volk“ der zentrale Begriff aller modernen Staatlichkeit ist, und gleichzeitig niemand sagen kann, was das „Volk“ ist.

5 http://zusammenkaempfen.bplaced.net/2019/08/16-08-veranstaltung/

6 http://oaphalle.blogsport.eu/die-autoritaere-linke-in-magdeburg/

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Khashoggi’s Ship

von Jörg Finkenberger
Rezension zu: Seth Abramson,
Proof of Collusion: How Trump Betrayed America, Simon & Schuster, 2018;
und
Proof of Conspiracy: How Trump’s International Collusion Threatens American Democracy, Macmillan, 2019

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Des jüngst ermorderten und zersägten Jamal Khashoggi Onkel, Adnan Khashoggi, besass die seinerzeit berühmteste Yacht. Sie erschien in Bond-Filmen. Queen hatten ein Lied „Kashoggi’s Ship“. Später verkaufte Khashoggi es an den Sultan von Brunei, und dieser sie wieder an Donald Trump. Dieses Faktum taucht nicht einmal am Rande auf in den beiden Büchern von Seth Abramson, die wir hier besprechen. Es gehört natürlich auch nicht dahin: es ist eine zufällige Fährte, die zwei Weltereignisse bloss äusserlich verbindet. Die Ermordung und Zersägung des amerikanischen Journalisten Khashoggi hat nichts mit der Yacht zu tun. Aber das heisst nicht, dass sie gar nicht mit Trump zu tun, der vorgibt, den Namen Khashoggi nicht zu kennen. Die wirkliche Verbindung ist viel umständlicher, viel mehr vermittelt durch völlig zufällige Nebenzumstände, und über den gesamten politischen Prozess der Gesellschaften.

Donald Trumps Leute haben spätestens seit 2015 bewusst und gezielt versucht, die Machtmittel vor allem des russischen Geheimdienstes in der amerikanischen Präsidentschaftswahlen zu nutzen. Darin verstrickt waren einige andere politische Kräfte des europäischen und mittelöstlichen Auslands, darunter regierende. Im Gegenzug verspraVch Trump sowohl Russland als auch den anderen beteiligten Parteien ein Entgegenkommen bei ihren eigenen Interessen. Das Geschäft war gegenseitig und umfassend: Im Kern läuft es erstens auf eine gegenseitige Unterstützung bei der Eroberung oder Verteidigung der Regierungsmacht hinaus, auf gegenseitige Hilfe bei der Usurpation und dem Betrug der eigenen Bevölkerung; und zweitens auf eine ganz neue, von Saudi-Arabien und Russland aus entwickelte Architektur der Macht im Mittleren Osten und Osteuropa. Die faktischen Umrisse der ganzen Angelegenheit kann Seth Abramson völlig über jeden Zweifel hinaus aufzeigen. Alle Beteiligten sind verdammt. Darüber brauchen wir gar nicht reden.

Die Ereignisse seither geben Seth Abramsons These Recht. Die entscheidenden Schritte des Präsidenten, die vielleicht dazu führen werden, dass ihm sein Handwerk gelegt wird: die Erpressung der Ukraine zu Zwecken seines Wahlkampfs, und der Verrat an der PKK in Syrien, haben deswegen solche Empörung hervorgerufen, weil sie nicht einmal dem Anschein nach irgendetwas mit den Interessen des amerikanischen Staats zu tun haben. Sie passen aber ohne weiteres zu den Verabredungen, die Abramson rekonstruiert. Und deswegen werden seine beiden Bücher gelesen, aber es wird nicht über sie gesprochen werden; so wie es mit jeder einzelnen Information darin schon einmal passiert ist.

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Die ukrainische Frage ist für „den Westen“, für Amerika und die sogenannte liberale Ordnung nicht von Anfang an eine Lebensfrage gewesen. Die aggressiv antirussische Politik, die dem „Westen“ in der Ukraine nachgesagt wird, hat der „Westen“ in Wirklichkeit nie getrieben. Die hysterische Propaganda der Putin-Leute, die schon 2014 vor einem vom „Westen“ angezettelten Weltkrieg warnten, war nie etwas anderes als hysterische Propaganda. Der „Westen“ dachte gar nicht daran, für Donetsk einen Krieg führen. Aber er hatte auch nicht vorgehabt, für Danzig einen Krieg zu führen, und wie ging das weiter?

Dass „Westen“ hat 2014 für die ukrainische Revolution nur das reine Minimum getan hat, ebenso wie 2011 für die syrische. Das ist eigentlich verständlich; er hatte sie nicht gerufen, und nicht gewollt. Genützt hat ihm das nicht; Putin und Putins Leute haben den Verrat an der Revolution nicht honoriert. Sie wissen etwas über den „Westen“, das der „Westen“ nicht über sich selbst weiss: dass der „Westen“ auf Gedeih und Verderb an die ukrainische wie an die syrische Revolution gefesselt ist. Dass er sich nur einbildet, sie ihrem Schicksal überlassen zu können. Aber ihr Schicksal ist auch das des „Westens“.

Die Rache für den Verrat war das, was syrische Anarchisten einmal die „Syrianization of the world“ genannt haben. Und der Höhepunkt des neuen Zeitalters war die Wahl Trumps zum Präsidenten der USA. Der Kern des „Westens“, die beiden angelsächsischen Grossmächte sind heute in einem Zustand, dass niemand weiss, ob es den „Westen“ überhaupt noch gibt. Ihre Verfassungen, beide im Kern aus dem 18. Jahrhundert, sind gleichzeitig in eine Krise geraten, die die letzte sein könnte. Sie sind der selbstzerstörerischen Logik der modernen politischen Revolutionsgeschichte 200 Jahre lang mehr oder weniger entkommen; das hat das Vorurteil befestigt, sie besässen den Liberalismus als eine historische Substanz, als festes Besitztum. In Wahrheit ist er keine Substanz, sondern ein spinnwebdünnes Verhältnis; und wer weiss, wieviel nächstes Jahr davon noch übrig ist.

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Das ist, was im Moment auf dem Spiel steht. Und das betrifft auch uns, die wir keinen Moment daran glauben, dass die liberale Demokratie das Ziel der Geschichte und die höchste Verwirklichung der menschliche Freiheit ist. Sie ist im Gegenteil eine ganz unzureichende Gesellschaftsform, sie ist überhaupt nur für einen kleinen Teil der Menschheit gleichzeitig möglich; unter dem Liberalismus hat die Freiheit in einem Teil der Weltgesellschaft die Knechtschaft in einem anderen Teil direkt zur Voraussetzung. Das kommt, weil sie an die kapitalistische Akkumulation gebunden ist; an einen Wohlstand, dessen Voraussetzung Ausbeutung ist.

Sie bleibt für den grössten Teil der Menschheit ein unerreichbarer Traum, aber ein Traum nichtsdestoweniger; auch, wenn er sich als ein Trugbild erweist, ist es doch ein sehr mächtiges Trugbild. Es wirkt als mächtiger Attraktor aller Parteien am Anfang jeder Revolution; erst zu spät fällt der Revolution auf, dass es sich weiter zurückzieht, je näher man ihm zu kommen scheint. Das widersprüchliche Verhältnis, in dem der „Westen“ und die neueren Revolution zueinander stehen, scheint daher zu kommen.

Können wir denn die liberale Demokratie für einen Schritt zur allgemeinen Befreiung, zur klassenlosen Weltgesellschaft halten? Nein. In Wahrheit ist sie nicht einmal deren unvollkommenes Abbild. Und sie bietet auch keinen Weg zu dieser. Sie bietet allerhand Möglichkeiten, immerhin ermöglicht sie Freiheit der Lehre, Freiheit der Rede, der Versammlung und der Vereinigung, aber alle diese Freiheiten enden, wo sie den Bestand der Ausbeutung in Frage stellen; und insgeheim haben schon lange alle geahnt, dass es einen friedlichen Übergang nicht geben wird, und dass es fürchterlich werden wird.

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Unter der Flut von Literatur über die Präsidentschaft Trump ragen die beiden Bücher Seth Abramsons durch eine merkwürdige Eigenschaft hervor, auch unter den von davongelaufenen Mitarbeitern Trumps oder anderen Insidern geschriebenen. Und zwar behauptet Abramson nicht, irgendein Sonderwissen zu haben. Er ist ein Jurist und Strafverteidiger, und langjähriger Journalist. Er behauptet nicht im entferntesten, von Haus mehr zu wissen als wir, es sei denn das, was man in der Juristenausbildung und der Praxis lernt. Alle Informationen, mit denen er arbeitet, und aus denen er seine Rekonstruktion der inneren Abläufe in Trumps Umfeld zusammensetzt, entnimmt er der Öffentlichkeit selbst; aus den Veröffentlichungen der Presse, aus von anderen Journalisten recherchierten, von anderen Redaktionen verantworteten Arbeiten aus den verschiedensten Ländern und Jahrzehnten. Es scheint etwas pompös, für diese an sich banale Sache den Namen „curatorial journalism“ zu erfinden und zu benutzen, weil es auf den ersten Blick nicht so aussieht, als ob hier etwas grundlegendes geschähe: Seth Abramson liest Zeitungen, unterstellt, dass die Journalisten dazu auch recherchiert hätten, und setzt das, was er findet, so zusammen, wie ein Ermittler Hinweise zusammensetzt.

Das interessante ist, dass hier wirklich etwas grundlegendes geschieht: es zeigt sich nämlich, dass die Summe alles dessen, was schon lange recherchiert, berichtet und veröffentlicht ist, weit über das hinausgeht, was man insgesamt über den Vorgang zu wissen glaubt. Seth Abramson setzt einen tages- und zum Teil stundengenauen Bericht aus all den obskuren Vorgängen zusammen, die wir im Rahmen der Ermittlungen der Mueller-Kommission alle schon einmal gehört haben, und deren obtuse und zufällige Natur einen zur Verzweiflung treiben kann: wer sollen alle diese Leute sein, die B-Prominenz der Trump-Leute, die George Papadopoulos, Sam Nunberg, Joseph Mifsud, Maria Butina? Was soll man damit machen, wenn man unvorbereitet damit konfroniert wird, das Roger Stone über Nigel Farage (!) Kontakt zu Julian Assange vermittelt bekommen hat? Irgendwo hat man, in einem Fiebertraum, alle diese Leute wahrscheinlich ohnehin schon einmal zusammen gesehen.

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Aber die Welt, die diese unbegreiflichen Charaktere bevölkern, weitet sich bald: bekanntere Namen tauchen auf, führende Leute der sogenannten populistischen Rechten und andere wohlbekannte Schurken (es fehlt nur noch Gerhard Schröder), das ganze Gesindel, das sich von der Klasse der Plünderer des Sowjetvermögen aushalten lässt; eine schattige Welt, ab und zu aufgeleuchtert durch das Hereinflackern abgehalfterter Pop-Promoter wie Bob Goldstone. In irgendeiner Ecke dieser Welt, das weiss man, lebt Ramzan Kadyrow, in einem anderen Bashir Assad.

Und zu der Geschichte, die solche Monster hervorbringt, stehen alle die merkwürdigen Einzelheiten, die kleinen Intrigen und Machinationen, in einer Verbindung. Die Natur dieser Verbindung ist nicht ohne weiteres zu begreifen. Sie folgt keinen einheitlichen Plan, keiner gemeinsamen Gesinnung, keinem festen Bund, sondern sie ist die Verbindung von Gaunern, die sich zusammentun, um erst alle anderen und zuletzt sich gegenseitig zu betrügen.

Es ist, wie wenn die Herrschaft über die Welt urplötzlich an das Gangstertum überzugehen im Begriff wäre, und die Kriminalermethoden Seth Abramsons sind vielleicht, um das festzustellen, genau die richtigen. Aber wieso kann das passieren? Warum kommen aus den verschiedensten Ecken der Welt gerade im selben Moment solche Gestalten unter den Steinen hervorgekrochen, wie auf Verabredung? Abramsons Methode und in der Tat sein ganzer liberaler Verstand bieten keinerlei Handhabe, das zu fassen. Und dabei liegt die Antwort gar nicht fern.

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Betrachten wir einen der merkwürdigsten plots der Geschichte, den Aufstieg des neuen Tyrannen von Arabien, von dem wir am Anfang schon gesprochen haben. Mohammad bin Salman, den man unter dem Namen Mr. Bone Saw kennen wird, ist nicht auf geradem Weg an die Macht im saudischen Königreich gekommen. Sein Aufstieg führt über eine ganze Reihe Ereignisse, die jedes für sich nicht minder unerhört sind als die Ermordung und Zersägung eines amerikanischen Journalisten in Istanbul, angefangen von dem Staatsstreich von 2017.

In diesem Jahr liess der Tyrann die reichsten Leute des Landes verhaften und einsperren, um ihnen einen Teil ihres Vermögens und ihre Unterwerfung abzupressen; Angehörige des Königshauses wie den Miteigentümer von Fox News Walid bin Talal, oder Angehörige der verzweigten ausländischen mit Saudi-Arabien verwobenen sunnitischen Kapitalistenklasse, wie Saad Hariri, den Ministerpräsidenten des Libanon. Man kann aber den Ministerpräsidenten eines anderen arabischen Staates nicht behandeln wie einen Dienstmann des saudischen Fiskus, auch wenn man ihr für einen solchen hält. Die jetzigen saudischen Herrscher werden das erst einsehen, wenn es zu spät ist; wenn sich die sunnitisch-arabische Welt, deren Führung sie beanspruchen, gegen sie wendet, oder wenn sie untergeht. Der irrsinnige yemenische Krieg könnte für beides den Anfang abgeben.

Man kann aber streng genommen auch nicht ein anderes arabisches Fürstentum unter Blockade stellen, wie Qatar 2018, ohne früher oder später das arabische Fürstenwesen selbst in Frage zu stellen. Seit die Dynastie Saud ihren anerkannten Platz in der internationalen Politik hat, ist dergleichen nicht mehr vorgekommen. Die seitherigen Untaten ihrer damaligen Tyrannen waren mehr geschäftsmässiger Natur: aggressiver als die Armee des Königreichs waren seine Baukonzerne, und allemal gefürchteter.

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Seth Abramson zeigt klar, was niemand sonst sehen möchte: wie eng der Aufstieg von König Knochensäge mit dem von dessen guten Freund Jared Kushners zusammenhängt, so dass in der Tat seinerzeit berichtet, aber anscheinend von niemandem gelesen und von allen vergessen worden ist, dass es Jared Kushner war, der dem König die Liste mit den Namen seiner vordringlichen politischen Gegner gegeben hat; zusammengestellt nach genau denjenigen Erkenntnissen der amerikanischen Geheimdienste, die diese aufgrund ihrer Schutzverpflichtung gegenüber Leuten wie Jamal Khashoggi erhoben.

Was bewegt die prätendierte Schutzmacht der arabischen Sunniten zu dieser unbegreiflichen, selbstzerstörerischen Politik, die alle bisher bekannten diplomatischen Gewohnheiten mit Füssen tritt? Es ist die 2011 zu Tage getretene Unhaltbarkeit aller bisherigen arabischen politischen Verhältnisse. Die ganze Architektur des mittleren Ostens ist auseinandergebrochen, nicht so sehr erst auf den Schlachtfeldern des syrischen oder libyischen Kriegs; sondern eigentlich schon mit der ägyptischen Revolution. Die arabischen Massen gehorchen nicht mehr denselben alten Männern und folgen nicht mehr den alten Ideologien. Und alle Kriege und Bürgerkriege, Staatsstreiche und Terror, alles sind Versuche, die alte Herrschaft wiederaufzurichten.

Die alte Herrschaft kann nie wieder aufgerichtet werden, vielleicht eine neue im Gewand der alten; ein sonnenbebrillter Usurpator in Ägyten, ein frommer kalten General, aber verkleidet als der populär fortschrittliche Nasser; ein anderer General mit Sonnebrille in Libyen; ein neuer Königssohn in Arabien. Es ist ein anderer Schlag, der jetzt hochkommt, völlig bedenkenlose neue Männer. Die alten, die noch irgendwelche Rücksichten nahmen, werden der neuen Lage nicht Herr. Die neuen Männer sind brutal, aber kurzsichtig: sie riskieren alles, aber sie werden bald alles verlieren. Es stört sie nicht. Sie würden ohne Zögern den ganzen mittleren Osten in die Hölle mitnehmen.

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Kein Regime, ordentlich gewählt oder nicht, kann bestehen ohne ein Mass an Unterstützung in der Gesellschaft. Was treibt, und auch das ist eine Frage, der Abramson nicht näher kommt, was treibt die Wähler und Unterstützer aller dieser Mächtigen an? Die Frage stellt sich im „Westen“ genauso. Es gab, das lässt sich schwer bestreiten, in der amerikanischen Politik eine andere Zeit, und genauso überall im „Westen“. Auch damals gab es Gegensätze zwischen der Partei des Präsidenten und der Oppositionspartei, aber damals, anscheinend, wurden diese Gegensätze zwischen den amerikanischen Parteien ausgetragen, gelegentlich durch Kompromiss, gelegentlich durch Unterliegen der einen Seite. Was anscheinend nicht oft passierte, war, dass die eine, unterliegende Partei sich im Geheimen Hilfe verschaffte bei ausländischen Regimen, gegen ihre innenpolitischen Gegner.

Wenn wir den Nachrichten aus diesem Zeitalter Glauben schenken wollen, müssen wir annehmen, dass sich aus den gegeneinander streitenden Parteiwillen eine Art politischer Gesamtwille der Gesellschaft bildete, ein breiter Konsens darüber, wer diese Gesellschaft ist, was sie will und was sie tut; und dass die Parteien sich in dieses Gebäude einfügten, als dessen Bausteine; dass sie ihren Konflikt gegeneinander als einen Streit um die Mittel verstanden, diesen Gesamtwillen zu verwirklichen. So steht es im Handbuch der Staatsbürgerkunde, aber so wirklich stimmt es nicht. Sowohl Nixon als auch Reagan haben im Präsidentschaftswahlkampf aussenpolitische Verhandlungen des Amtsinhabers sabotiert, indem sie auf eigene Faust dem aussenpolitischen Gegner, Vietnam bzw. Iran, einen besseren Deal nach ihrer Wahl in Aussicht gestellt haben.

Beide haben mit diesem Trick geschafft, dem Amtsinhaber einen aussenpolitischen Erfolg im Wahlkampf zu rauben. Im Grund ist, was Trump 2015 mit den Russland-Sanktionen getrieben hat, nicht viel anderes, als was zwei Kandidaten seiner Partei vor ihm schon gemacht haben. Man kauft sich eine Wahl vom Landesfeind auf Kosten des eigenen Landes. Ein altehrwürdiger dirty trick; man würde ihn eigentlich Hochverrat nennen. Es ist nur für so etwas bisher niemand bestraft worden. Das hat wohl damit zu tun, dass es aussieht, als ob doch niemand zu Schaden kommt; weil eine Demokratie einen gegenständlich bestimmbaren Souverän mit einem bestimmbaren Willen nicht haben kann, ausser unter der Revolution. Strafbar ist so etwas ausserdem noch nach einem eigens für so etwas gemachten Gesetz, dem Logan Act von 1799. Seit 1852 ist niemand nach diesem Gesetz angeklagt worden, und überhaupt nie jemand verurteilt.

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Wenn man sich direkt und plastisch vorstellen will, wie eine Gruppe von nicht gewählten, durch niemanden legitimierten Männern Aussenpolitik auf eigene Faust betreibt; auswärtigen Mächten Versprechungen auf Kosten der gesamten Gesellschaft macht, um sich von ihnen die Mittel zu verschaffen, um sich selbst in Besitz der Staatsmacht zu setzen, dann hat man heute Seth Abramsons Bücher als Material. Guy Debord hatte nichts vergleichbares, als er 1988 schrieb: „So mysteriös ist die Staatsmacht geworden, dass man nach der Affaire mit den illegalen Waffenverkäufen durch die US-Präsidentschaft an den Iran sich fragen kann: wer führt eigentlich die wirklich die Geschäfte der USA, der Führungsmacht der sogenannten demokratischen Welt; und damit, wer zum Teufel, führt eigentlich die demokratische Welt?“ (Guy Debord, Kommentare zur Gesellschaft des Spekatakels, 1988, These XVIII)

Niemand, muss man antworten. Das ist ihr Wesen. Und niemand, das heisst: jeder dahergelaufene Gangster, wenn nur genügend Leute seine Lügen glauben wollen. Warum aber wollen genügend Leute anscheinend Lügen glauben? Denn die reine Enthüllung, dass es sich um Lügen handelt, beeindruckt heute niemanden mehr.

„Niemals vorher gab es eine vollkommenere Zensur. Niemals vorher waren diejenigen, die man in einigen wenigen Ländern glauben macht, sie seien noch freie Bürger, weniger berechtigt, sich zu Entscheidungen zu äussern, die ihr wirkliches Leben betreffen. Niemals vorher war es möglich, sie so dreist zu belügen. Als Zuschauer weiss man nichts und braucht nichts wissen. Das ist notwendigerweise die Rolle des Zuschauers: denn wer nur zuschaut, um zu sehen, was geschieht, wird niemals handeln. Man zitiert oft die USA als eine Ausnahme, weil Nixon schliesslich Pech hatte mit einer Reihe von Lügen, deren Ungeschicklichkeit allzu zynisch war; aber diese eng begrenzte Ausnahme, die alte historische Gründe hatte, trägt heute nicht mehr, seit neuerdinge Reagan das selbe gemacht hat, und ohne Konsequenzen. Viele Dinge sind unautorisiert; alles ist erlaubt. Das Gerede vom Skandal ist antiquiert. Die gründlichste Zusammenfassung der Periode, in die die ganze Welt kurz nach Italien und den USA eingetreten ist, kann in den Worten eines hohen italienischen Politikers gefunden werden, der gleichzeitig der Regierung und der Parallelregierung, P2, Potere Due, angehörte: „Es gab einmal Skandale, aber jetzt nicht mehr“.“ (Debord, Kommentare, 1988, These VIII)

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„Ich hatte die ganze Zeit gedacht, dass sie für libertäre Republikaner stimmen. Aber nach einigem gründlicheren Nachdenken habe ich begriffen, dass, wenn für sie Rand [Paul, konservativ-libertärer Politiker] oder Ron [Paul, dessen Vater] oder mich in den Vorwahlen gestimmt haben, dass sie dann nicht für libertäre Ideen stimmen – sie stimmen für den verrückesten Hundesohn im Rennen. Und Donald Trump hat gewonnen, als Klassenbester, so wie wir gewonnen hatten, bevor er kam“, sagte unlängst Thomas Massie, Kongressabgeordneter aus Kentucky und sogenannter libertär-konservativer. So viel Einsicht findet man unter seinesgleichen selten.

Leute wie er, die in der sogenannten „Tea Party“-Bewegung seit 2010 in die amerikanischen Parlamente kamen, sind eigentlich nichts anderes als militantere Neoliberale; nichts, was sie sagen, ist für jemanden neu, der in den 1990ern auf der Welt war. Diese Leute halten Obamas Reform der Krankenversicherung für eines der Verbrechen des Sozialismus, etwa auf der Stufe der nordkoreanischen Arbeitslager. Seit der Wahl Obamas, mitten in der globalen Krise des Kapitalismus von 2008, haben sie die USA mit einer immer schrilleren Propaganda überzogen. Aber diese Propaganda war nicht nur verrückt, sondern sie war vor allem kompromisslos. Genau im selben Masse, wie die Politik zur schieren Rettung der kapitalistischen Produktionsweise von den neoliberalen Ideen und Methoden abgehen musste, traten ihnen dieselben neoliberalen Ideen als eine selbständige Macht und gesellschaftliche Bewegung gegenüber. Wenn man sich jemals gefragt hat, welche Sorte von Narren die Versprechungen des neoliberalen Zeitalters geglaubt hatte, hier sind sie. Dass sie in Trump gipfelt, dessen Minister ihre Geschäftsfreunde auf Kosten des Staatsschatzes bereichern, ist an sich nicht ironischer, als dass eine Stimme für Obama im Effekt eine Stimme für die Rettung des grossen Kapitals gewesen ist.

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Auf der einen Seite beruht die kapitalistische Gesellschaft auf den bürgerlichen Ideen von Privateigentum, Familie und Staat. Aber die Wirklichkeit zu diesen Ideen steht zu diesen Ideen selbst in einem zerstörerischen Gegensatz. Das liegt daran, dass auf diese Ideen eine Gesellschaft überhaupt nicht gebaut werden kann. Der ganze Verlauf der bürgerlichen Gesellschaft ist ein fortgesetzter Versuch, diesen Gegensatz zu bewältigen. Und in diesem unmöglichen Versuch schlägt die Gesellschaft wild mit den Flügeln: die Ideen, die nie zusammengepasst haben, treten so harsch auseinander, dass keine Partei sich mehr leisten kann, den Acheron nicht aufzurühren.

Die Republikaner hatten nicht die Wahl, ob sie die „Tea Party“ haben wollte; sie hätte, wie es im Fachenglisch der Demoskopen heisst, ohne sie nie einen „path to victory“ gehabt. Und sie hatten nie die Wahl, Trump nicht zu akzeptieren. Sie riskieren die Spaltung der amerikanischen Rechten, und ihr Versinken in die Bedeutungslosigkeit. Aus genau demselben Grund werden die Demokraten, im Versuch, den Präsidenten loszuwerden, auf kein Mittel verzichten können. Es hat seinen Grund, dass man gegnerische Politiker nicht regelmässig Hochverräter nennt; es ist die Rhetorik des Revolutionskriegs, des jakobinischen Patriotismus. Wenn die Republikaner nicht eines schönen Tages beschliessen, Trump fallen zu lassen, drücken sie der amerikanischen Linken diese Mittel in die Hand.

Das schlimmste nämlich ist, dass keine bestehende politische Kraft gegen den Trumpismus wirklich bestehen kann. Nicht weil der Trumpismus so machtvoll ist. Er ist es nicht. Sondern weil alle vorherigen politischen Kräfte bankrott sind. Und mehr noch, auf eine perverse Weise vollendet Trump diejenigen Tendenzen, die sich dem System in den letzten 10 Jahren aufgezwungen haben und die es nicht organisieren konnte: der Wechsel der internationalen Allianzen, die Abkehr vom freien Handel, der Zwang zum Versuch einer Reindustrialisierung, alles hatte schon unter Bush angefangen, und auch wenn Trump diese Dinge ausführt wie ein Trottel, gibt es niemanden, der etwas grundsätzlich anderes versprechen würde. Vielleicht sind diese Unterfangen auch derart aussichtslos, dass nur ein Trottel sie überhaupt ernsthaft angehen würde. Oder?

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Oder es gibt es auch eine andere Auflösung. Die ukrainische und die syrische Affaire drängen die Opposition, womöglich bald Teile der Präsidentenpartei zu entschiedenem Handeln. Das kann Rückwirkungen überall haben. Vielleich, dass der liberalen Ordnung, oder dem „Westen“, doch noch nicht alles Leben entwichen ist, und dass sie nicht vergessen hat, wieviel von ihrer Existenz sie der Ungeduld der unteren Volksklassen verdankt? Auch der Weg Europas in die faschistische Ära war damals nicht unvermeidbar, war auch nach 1933 noch nicht unumkehrbar. Der Sieg der Vereinigten Linken in Spanien und in Frankreich 1936 hätte alles aufhalten, sogar umkehren können. Aber, und das ist der Punkt, es gibt keine solche Vereinigte Linke, hat nie eine gegeben, und kann nie eine geben.

Es ist möglich, dass Elizabeth Warren mit einem linken Reformprogramm Präsidentin wird. Die gesellschaftliche Kräftekonstellation, die sie dahin bringen könnte, besteht bereits, und sie besteht in den meisten Demokratien und weit über diese hinaus überall. Aber der Kern diese gesellschaftlichen Koalition wird, wenn sie je eine Macht wird, nicht die Klasse sein, die die Leitartikel der NY Times schreibt, sondern die organisierte Arbeiterschaft, die sich erst in den letzten Jahren wiederzu strecken begonnen hat. Und deren Ansprüche werden nicht leicht zu befriedigen sein, so bescheiden auch ihre ersten Schritte waren. Es ist keineswegs klar, wie sie in eine neue Version der liberalen Ordnung integriert werden können.

Es kann durchaus sein, dass für den „Westen“, für die bisherige liberale Ordnung, noch einmal eine Frist gekauft werden kann. Eines Tages nicht mehr. Allein das Emporkommen solcher Anführer wie Trump, oder auch de Pfeffel Johnson, ist ein schlechtes Zeichen. Entweder sie, oder aber diejenigen, die sie stürzen werden, können dabei leicht die historische Besonderheit der angelsächsischen Verfassungen aufbrauchen. Das Gesicht der Welt wird ein anderes sein. Ohne den Westen wird alles immer so sein wie Spanien 1936-39. Niemand wird die Faschisten hindern, aus dem Himmel über jeder Revolution Bomben regnen zu lassen.

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Aber auch wenn eine solche neue Frist, eine neue Auflage der liberalen Ordnung zu Stande kommt, ist nichts gelöst. Sie wird, wenn es ihr gelingt, die bekannte Lage der Dinge wiederherstellen. Ob die Retterin Elizabeth Warren sein wird oder wer auch immer, es wird der Staat sein und das Recht, und das Eigentum an den Produktionsmitteln; d.h. der Ausschluss der Gesellschaft von der Führung ihrer eigenen Angelegenheiten. Die Lage, in der man nur Zuschauer ist, aber nie handelt.

Seth Abramson hält das für das beste denkbare Szenario. Er hält aber auch seine Methode des Journalismus für eine Lösung des Problems: denn in der Tat, beweist er nicht, dass die Öffentlichkeit in Wahrheit mehr weiss, als sie weiss, und dass ihr bisher nur die Methode fehlt, um es wirklich zu wissen? Aber die Zuschauer bleiben immer noch Zuschauer, und auch wenn sie die Lügen der Propaganda für einen Moment durchschauen können, sind doch die Motive nicht aufgehoben, auf Grund derer sie überhaupt Lügen glauben wollen. Sie sind in eine Gesellschaft verstrickt, die nur durch Lügen aufrechterhalten werden kann. Und wenn es darauf ankommt, ist der ihr Mann, der am bedenkenlosesten lügen kann.

Was soll man insgesamt, mit den Ergebnissen, zu denen Abramson kommt, anfangen? Ohne den historischen Hintergrund, ohne die neueren Revolutionen, sind sie die Geschichte einer Handvoll Verbrecher, und schlimmer: nur die Geschichte derjenige Fraktion unter den heutigen Regimen der Konterrevolution, die sich mit Trumps Leuten verständigt hat: Russland, und die 6 engeren Verbündeten Saudi-Arabiens. Es gibt ohne Zweifel ähnliche Verknüpfungen zwischen den türkischen und iranischen Regimen mit der europäischen Politik. In Europa ist niemand, der ihnen nachgeht. „Es gab einmal Skandale, aber heute nicht mehr.“