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Nachträglich: Über die Situationisten

Die Strömungen und Gruppen, die das Erbe der SI beanspruchen, haben von ihren Ideen meistens die zu glatten, die verführerisch einfachen, die bloss theoretischen übernommen; die unebenen, schwierigen aber liegen lassen, in denen aber als einzige aber Leben war. Es ist eine schwierige Erbschaft. Die SI hat geschafft, mehrere Linien der modernen Revolutionsgeschichte zusammen; auf dem Grat dieser Einheit zu halten, war ihr nur um den Preis ständiger Anstrengung möglich. Das kommt, weil ihre Ideen getrennt von der Praxis zu bestehen hatten. Wer sie weiterführen will, muss sie verwerfen. Die sie einfach übernehmen, werden sie verderben.

Die Situationistische Internationale hat sich ohne Frage ungeheure Verdienste erworben. Aber zu Grunde gegangen ist sie zuletzt, und berechtigt, an ihrem Grundfehler, der alle ihre Praxis und jeden ihrer theoretischen Sätze durchzieht: der Ideologie der Avantgarde.

Merkwürdige Ironie: die radikale Kritik der Trennungen war nicht radikal genug. „Unsre Ideen sind bereits in allen Köpfen, es kommt darauf an, sie dort hervorzuholen“, ja, aber als sich das im Juni 1968 gezeigt hatte, war niemand unter den Situationisten mehr zu irgendeiner sinnvollen Handlung fähig. Die Ereignisse hatten diese Ideen verwirklicht, und damit überholt. Debord und Sanguinetti waren die nächsten fünf Jahre damit beschäftigt, ihre Organisation aufzulösen; in genau der Zeit, in der sich die Niederlage ihrer Bewegung entschied, waren sie nicht im Stande, irgend etwas beizutragen.

In den Jahren vor 1968 hatte ihnen die Existenz als Avantgarde-Gruppe notwendig geschienen, und man mag nicht einmal sagen mit Unrecht; sie hatten einen klareren Begriff als die meisten gewonnen von den Dingen, die anstanden. Überall sonst gab man sich überzeugt, dass keine grösseren Erschütterungen zu erwarten waren; niemand ausser ihnen schien das leise Zittern zu bemerken, das grösseren Erdstössen voranzugehen pflegt.

Die sogenannte Avantgarde ist aber eine Figur der Marginalisierung, eine erzwungene Isolation und ein Behelf, in der man sich sehr leicht einrichtet. Sie brütet die Überzeugung aus, man stünde in einem speziellen Bund mit einer inneren Tendenz der Geschichte; mit denjenigen Ideen, die die Gesellschaft nicht offen ausspricht. Und das ist nicht wahr. Dieser Bund, wenn er besteht, ist vorübergehend. In der Form der Avantgarde ist das Scheitern schon vorgezeichnet.

Die kleinen Manöver und Intrigen der Sektenpolitik, die niederen Künste der Verschlagenheit sind in einem solchen Milieu überlebensnotwendig; sie bilden Gewohnheiten, die nicht leicht abgelegt werden. Die Illusion ungeheurer Bedeutung, ohne die in solcher Lage niemand den Antrieb zum Handeln fände, prägt sich zu einer Politik der Selbstermächtigung.

Aber die Sache ist, man schuldet Rechenschaft. Man arbeitet keineswegs auf eigene Rechnung. Man handelt keineswegs auf eigene Faust. Das sind Illusionen, für die man teuer bezahlt.

Diese Avantgarde-Ideen stammen, soweit es die Situationisten betrifft, aus der Kunst. Sie stellten sich die Aufgabe, die Kunst aufzuheben; genauer die Trennung zwischen der Kunst und dem alltäglichen Leben, und zwischen Produktion und Konsum von Kunst. Man konnte nicht einfach Kunstwerke produzieren, selbständig neben den Schaffensakt tretende Gegenstände; die Illusion der Autonomie der Kunst war verflogen. Solche Kunst produzierte Waren. Sie fanden die Idee, Schönheit nicht in einem fertigen Werk, sondern in der flüchtigen Situation zu finden; in einem Akt, in dem diese gleichzeitig entsteht und sich verbraucht. Das ist schön empfunden.

Das interessanteste an der Kunst ist die freie Tätigkeit, Handhabung der Mittel des Ausdrucks. Das gerade die Wurzel der befreienden Bewegung. In der freien Tätigkeit erschaffen sich die einzelnen Menschen als die Urheber ihrer Tätigkeit. Die sogenannte Spontaneität, die Bewegung ohne Anleitung, ist das Gegenstück. Sie geht sowenig in der sorgfältigen Organisation auf wie die Kunst im Kunstbetrieb, sie erstickt in dieser. Massenhafte freie Tätigkeit, das ist Aufhebung und Verwirklichung der Kunst. Sie kann durchaus vorbereitet werden. Erfahrungen können gesammelt werden. Dazu bedarf es gesellschaftliche betriebener Kunst, die nicht als Ware betrieben wird.

Aber Situationen zu machen, wie man früher Kunstwerke zu machen pflegte: wo ist die Grenze zur Manipulation, zum Manöver? Zumal auf dem Feld der gesellschaftlichen Veränderung, dem sie diese aufgehobene Kunst dienstbar machen wollten. Katalysator kann man sein, aber nicht Urheber. Die eigene bevorzugte Stellung in dem Prozess muss sich auflösen. Die Parallele zur Kunst wäre nur gegeben, wenn die Kunst von allen gemacht würde, aber dann ist sie nicht mehr Kunst; diese Trennung aufzuheben, ist der Avantgarde nicht möglich, ehe sie sich nicht als Avantgarde aufhebt.

Das macht die Sätze der SI nicht wertlos. Aber sie müssten auf einer noch einmal neuen Grundlage neu erforscht werden. Sie müssen von einer anderen Position als der der avantgardistischen Subjektivität neu formuliert werden, uns es ist nicht unmittelbar klar, wie gut sie das vertragen. Einige lösen sich vielleicht in Banalitäten auf, andere werden vielleicht kaum anwendbar.

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Die amerikanische Verfassungskrise VI

Teil IIIIIIIVV

Ehe wir wieder darangehen, über die amerikanische Krise selbst weiter zu schreiben, in der Zwischenzeit noch ein zwei Sachen über ihre Wirkung auf die Gemüter überall. Die Literatur über die derzeitige Krise der Gesellschaften ist von der Krise selbst nicht gut zu trennen. Nehmen wir folgendes schöne Beispiel:

Die Agonie des US-Imperialismus
Die Herausbildung des multipolaren Weltmarktes auf den Trümmern des neoliberalen Weltmarktes
von Iwan Nikolajew

Mich interessiert grad weniger, was er beschreibt, sondern eher, wie. Man hat immerzu den Eindruck, dass die Leute den einzelnen politischen Kräften und sogar den Prozessen viel mehr an Bewusstheit und Organisiertheit zuschreiben, als diese haben können. Eine Krise, lehrte die Erfahrung, kann zu Diktatur führen. Dikatur, lehren die Klassiker, ist die am meisten brutale Herrschaft der herrschenden Klassen insgesamt. Die verfeindeten Parteien repräsentieren beides die herrschende Klasse. Ergo:

Die USA stehen nach der Wahl am Rande eines Bürgerkrieges. Verhindert werden kann ein Bürgerkrieg und ein Zerfall der USA unter kapitalistischen Bedingungen unter Umständen nur eine Diktatur, ob zivil oder militärisch, ist gleichgültig. Alternativ eine „Regierung der nationalen Einheit“. … Für die US-Bourgeoisie wird es sehr kompliziert werden, ihren Fraktionskampf untereinander zu mäßigen und sich auf einen Kompromiß im Sinne einer „Regierung der nationalen Einheit“ hinzubewegen. Auch eine „Regierung der nationalen Einheit“ ist ein Moment des bürgerlichen Ausnahmestaates und geht mit großer Repression gegen die Arbeiterklasse vor, denn beide Fraktionen des Kapitals einigen sich auf dem Rücken der Arbeiterklasse, wenn sie sich überhaupt einigen können. …

WTF? Niemand hat von so etwas gesprochen, wie kommt man überhaupt darauf? Die verschiednen Fraktionen der Herrschenden sind nicht zuerst von dem Bewusstsein angetrieben, dass sie sich untereinander einigen müssen. Die Weltgeschichte sähe recht anders aus sonst. Kurz vorher standen die verfeindeten Parteien am Rand, sich die Hälse abzuschneiden, ergo müssen sie eine Einheitsregierung bilden.

Solche heissgelaufene Logik findet sich überall in dem Text, völlig random gemischt mit eher realistischen Auffassungen. Aber die fixe Idee wird durchgehalten, dass überall jetzt schon die Kräfte der Diktatur am Werk sind; wenn doch, wie sie selbst einräumen, diese Kräfte im Laufe der Krise und der Konflikte sich erst konstituieren!

Dieselben Regierungen, denen die Krise einerseits die Handlungsfähigkeit nimm, entfalten andererseits sagenhafte Weitsicht und ungeheure Macht; die Krise, noch ehe sie voll entfaltet ist, ist eigentlich schon bewältigt; die Diktatur, die auf der einen Seite aus der Krise hervorzugehen droht, ist auf der anderen Seite schon an ihrem Beginn anwesend und vollauf Herrin der Lage. Überall derselbe rätselhafte Zeitsprung, wo die Lösung eines Konflikts schon anwesend ist vor dem Konflikt. Das aber geschieht in Wirklichkeit nur an einem einzigen Ort, im menschlichen Geist des Theoretikers; dies ist die grosse Zeit des auf dem Kopf stehenden Denkens. Und „die Massen“, das soll man nicht vergessen, bestehen geradesogut aus Theroetikern wie die „politische Avantgarde“ auch:

Wir sehen, daß das traditionelle Kleinbürgertum, welches von der Stilllegung von Branchen im „Corona-Notstand“ betroffen ist, nicht vom Kapital zur „Leistungsgemeinschaft/Volksgemeinschaft“ gezählt wird… das bisherige traditionelle Kleinbürgertum in seiner sozialen Zusammensetzung, behindert die Weltmarktkonkurrenz des deutschen Kapitals und muß wenn nötig auch, physisch vernichtet werden

Umgekehrt wird ein Schuh draus: das Kleinbürgertum fürchtet, dass es nicht zur „Leistungsgemeinschaft“ gezählt werden wird, wenn es wirklich darauf ankommt. Die Ahnung der Diktatur und der „physischen Vernichtung“ der Überflüssigen hat die grösste Macht auf diejenigen, die innerlich von ihrer eventuellen Notwendigkeit am ehesten überzeugt sind. Wer das Infektionsschutzgesetz mit dem Ermächtigungsgesetz vom 27.3.1933 vergleicht, handelt nicht einfach aus Sorge, dass derlei wieder passieren könnte, sondern aus Empörung, zu Unrecht zu den Unerwünschten gezählt zu werden. Der ganze Rest der Gesellschaft, die Regierungen eingeschlossen, haben nicht die leiseste Ahnung, warum so etwas überhaupt zur Debatte steht und wie man auf so etwas kommt.

Der argwöhnische Verstand der Theoretiker sieht allzuglattes Funktionieren, wo man genauer betrachtet eine Desintegration der Apparate und der Gesellschaften sähe. Wie laufen denn die Dinge im so gut organisierten Deutschland? Auf Twitter habe ich jemanden neuerdings von einer „völlig zerschossenen Krisenkommunikation“ schreiben sehen. Das ist vollkommen richtig. Die Regierungen sind keineswegs in der Lage, einen derart eisern-einheitlichen Willen zu bilden, wie man sie ihnen zuschreibt. Dabei haben sie es mit einer Lage zu tun, die im Kontext des Katastrophenschutzes noch nicht einmal überaus komplex ist.

Nach 1929 war nicht Heinrich Brünig der, der den Faschismus gemacht hat. Die Kommunisten haben es bekanntlich trotzdem behauptet. Wird man nicht sagen, dass das ein Fehler war? Das dicke Ende kommt am Ende, nicht am Anfang der Krise. Die Aufregung in manchen Kreisen über die Bekämpfung der Epidemie ist aber nicht irrelevant: sie sagt viel aus. Aber etwas anderes, als diese Leute selbst meinen.