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Intro Ausgabe 3

Die Dinge sind immer noch schlecht, und seit dem letzten Heft sind sie vielleicht auch nicht unbedingt besser geworden, sondern, wenn wir ehrlich sein wollen, eher viel schlimmer. Es tut uns leid. Es war nicht unsere Absicht und soll nicht wieder vorkommen.

Namentlich leid tun uns die Fortschritte der islamischen wie der militärischen Konterrevolution in den arabischen Ländern und im Iran und Pakistan, sowie der nahende Zusammenbruch des europäischen Währungssystems ohne jede irgendwie vorstellbare Gegenkraft gegen die faschistischen Tendenzen, die dieser Zusammenbruch bereits jetzt freisetzt; insgesamt also der doch überraschend klar ausgefallene Fortschritt der Katastrofe, bei gleichzeitiger fortschreitender Zerstörung desjenigen Bewusstseins, das eine Revolution um 2011 überhaupt erst möglich gemacht hätte. Wir bitten unsere Leser vielmals um Entschuldigung.

Teil dieser Entwicklung ist die Fortdauer einer angeblich oppositionellen Bewegung, deren geistiger Zustand von gedankenloser Homogenität bestimmt ist, von einem derart elenden Konformismus und dem Fehlen jeden Funkens von wachem, kritischem Bewusstsein, jeder intellektuellen Neugier und jedem rastlosen Ungenügen mit dem, was für wahr zu halten man gewohnt ist; dem völligen Verzicht auf den Drang, zu verstehen, um zu verändern, und zu verändern, um sich selbst zu verändern; insgesamt also eine Bewegung, die sich mit allem als das Gegenteil ausweist von dem, was von einer oppositionellen Bewegung heute gefordert wäre. Schreiben Sie bitte den Namen dieser Bewegung auf eine Postkarte und gewinnen Sie tolle Preise!

Die Unzulänglichkeit aller bestehenden Kritik ist erschreckend. Wir hoffen, ihr etwas auf die Sprünge zu helfen. Dass man dazu freilich den Antideutschen keinen Moment der Selbsttäuschung und der Resignation gönnen darf, ist schon öfter gesagt worden; ob wir uns wirklich noch mit jedem Unsinn gesondert beschäftigen müssen, darf man trotzdem bezweifeln. Ganz erspaert wird es uns nicht bleiben, und damit per extensionem auch euch nicht.

Zuletzt ist unsere Aufgabe aber nicht nur die, zu zerstören, sondern auch aufzubauen. –

Noch eine wichtige Durchsage: diese Ausgabe ist noch ein letztes Mal kostenlos. Für die nächste wollen wir Geld, und zwar zunächst 2 Euro pro Heft. Wir bitten, ein Abonnement zu bestellen (über die üblichen toten Briefkästen) und zu bezahlen (Bankverbindung gibt es mit der Abobestätigung) bis

1. Dezember 2012.(1)

Fürchtet euch vor
dem Krassen Tor.

1 Frist gegenüber Druckausgabe verlängert, wegen der Verzögerungen der Drucklegung.

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Keiner kommt hier lebend raus

von Schnittler

Als „Arbeitsmarktdienstleister“ bezeichnet sich die Firma auf ihrer Homepage und diese Selbstbezeichnung ist ebenso nichts sagend wie die Umschreibung ihrer Tätigkeit: „Wir bieten interessierten Personen, Betrieben und öffentlichen Organisationen (Arbeitsagenturen, ARGEn, Kommunen, Behörden) ein umfassendes Dienstleistungsangebot rund um die Themen Arbeitsmarkt und Integration.“ Übersetzt: Hier handelt es sich um eine privat wirtschaftende Außendienststelle des Arbeitsamtes, die Vermittlungsarbeit auf Provisionsbasis übernimmt. In Frankfurt besitzt dieser „Arbeitsmarktdienstleister“ drei Filialen und ein mehrstöckiges Schulungszentrum in bester Lage. Dass „interessierte Personen“ und Betriebe die angebotenen Dienste freiwillig in Anspruch, nehmen ist sicherlich Blödsinn. Warum sollten sie? Derlei Firmen sind dazu gegründet worden, um diejenigen zu vermitteln, zu deren Weiterreichung in die Lohnarbeit sich das Amt außerstande sieht. Sie existieren seit Jahren in jedem Kaff. In informierten Kreisen geht man davon aus, dass pro Kopf bei erfolgreicher Vermittlung rund 2000 Euro Provision vom Arbeitsamt gezahlt werden. Man darf getrost davon ausgehen: Das Geschäft läuft blendend.

Wer als Lohnarbeitsloser und von Arbeitslosengeld abhängiger Mensch nicht fleißig genug Bewerbungen schreibt, Termine verpennt, angeordnete Maßnahmen verweigert (1Euro-Jobs, Bewerbungstrainings, unbezahlte Praktika, Werbeveranstaltungen von Zeitarbeitsfirmen etc.) oder sich ansonsten unwillig zeigt, jeden Blödsinn mitzumachen und jeden Drecksjob anzunehmen, um aus der Arbeitslosenstatistik herauszukommen, und lieber seine Zeit mit etwas ihm oder ihr sinnvoller Erscheinendem verbringt, fällt unter den Sanktionskatalog der „Mitwirkungspflicht“. 15% Kürzung der Bezüge, 30% Kürzung der Bezüge, 45% Kürzung der Bezüge und zuletzt Ernährungsgutscheine. Die konsequente oder nichtkonsequente Anwendung dieser Strafmaßnahmen obliegt dem „PAP“ (Persönlicher Ansprechpartner), dem Sachbearbeiter. Die damit notwendig einhergehende Willkür ist eine gewollte Vervollkommnung der repressiven Atmosphäre, die auf dem Arbeitsamt vorherrscht.

Die Androhung einer Kürzung brachte mich ebenfalls zum erwähnten Frankfurter „Arbeitsmarktdienstleister“. Für drei Monate sollte ich zweimal wöchentlich in dessen Büro antanzen, um mich vermitteln zu lassen.
Der junge Mann, dem ich dort gegenübersaß, war ein echter Profi. Mit allen psychologischen Wassern gewaschen. Ein Doktor Jekyll und Mister Hyde.
Während der ersten drei Termine war er freundlich, fragte scheinbar aus ehrlichem Interesse nach dem Privatleben und nach persönlichen Interessen, sprach von „individuellen Lebenswegen“, plauderte unverbindlich daher und erstellte während dieses Smalltalks ohne mein Zutun, ganz nebenbei das was er für eine professionelle Bewerbungsmappe hält (alles erstunken und erlogen). Kurzzeitig vermochte er sogar, mir einen gewissen den Arbeitsmarkt betreffenden Optimismus einzuflößen. Er versprach, keine Zeitarbeit zu vermitteln, schwadronierte von anständigen Löhnen und seinen guten Kontakten in die Welt der Arbeitgeber, prahlte mit seinen Vermittlungserfolgen und gab sich im Allgemeinen leutselig und gutmütig.
Einen Riss bekam dieses beruhigende Bild, als ich es partout nicht fertig brachte, auf einem Bewerbungsphoto ausreichend zu lächeln. Nach dem dritten Versuch mit seiner Digitalkamera, fing er unvermittelt an zu brüllen, drohte mit der Mitwirkungspflicht und machte ernsthafte Anstalten, meine Sachbearbeiterin telefonisch über mein Fehlverhalten zu informieren. Folgerichtig zog er in den kommenden Wochen hemmungslos die Daumenschrauben an. Von Vermittlung keine Rede mehr. Die gespielte Freundlichkeit war verflogen. Ich musste wöchentlich zehn Bewerbungen schreiben und in einem Vordruck Name und Emailadresse der Firma und einen individuellen Bewerbungstext als Nachweis eintragen. Als ich nach zwei Wochen aus Nachlässigkeit (er hat tatsächlich jede Firma auf ihre Existenz hin im Internet nachgegooglt und gegebenenfalls auch dort angerufen) ein falsches Anschreiben an die falsche Firma geschickt habe, wurde es noch schlimmer. Geschrei, wildes Gestikulieren, wüste Drohungen. Er prophezeite eine 45-Stunden Woche in einer Hanauer Spinatverpackfabrik, die er auch gerne zwangsweise vermitteln könne.
Trotzdem unterlief ich seine Maßnahmen wo es nur ging. Ich schrieb Bewerbungsschreiben an Freunde, versendete meinen Lebenslauf an falsche Emailadressen und bei zwei Bewerbungsgesprächen habe ich mich absichtlich danebenbenommen. Klappte ganz gut, seine Laune wurde aber naturgemäß immer schlechter. Das Geschrei und das penetrante Pochen auf Sekundärtugenden und längst widerlegte Propagandalügen („Sie können doch nicht auf Kosten der Allgemeinheit leben… haben Sie den überhaupt kein schlechtes Gewissen… denken Sie doch einmal an die Rente…“ etc.) wurde schier unerträglich.

Nachdem ich zwei Drittel dieser „Wiedereingliederungsmaßnahme“ hinter mich gebracht hatte, wurde ich in sog. „Seminare“ geschickt, die ab da wöchentlich stattfanden. Die Titel der ersten drei Veranstaltungen ließen nichts Gutes erahnen. 1. „Networking im Sinne meines zukünftigen Arbeitsplatzes“, 2. „Gesundheit und Stressbewältigung für die erfolgreiche Jobsuche“, 3. „Zwischenmenschliche Kommunikation am Arbeitsplatz“. Dauer: Jeweils sechs Stunden, plus einer halbstündigen Pause. Leiterin: Frau Doktor P. – eine grauberockte, hoffentlich kinderlose, etwa 40 Jährige Frau mit dunkelblondem Haar, lautstarkem Organ und sportlicher Figur.

Der völlig enthemmte Arbeitsmarktvermittler, der mich in den Wochen zuvor unter vier Augen in die Mangel genommen hatte, saß auf seinem Posten nicht lediglich aufgrund schlechten Recruitments von Arbeitsmarktdienstleisterarbeitgeberseite. Seine Verbalinjurien waren keine unprofessionellen Patzer. Der Mann ist kein Unikat und ich hatte mit ihm nicht einfach „Pech gehabt“, wie ich bis dahin naiv mutmaßte. Der repressive Umgang hat System. Das erste „Seminar“ war der beste Beweis dafür.

Nach einer, auf das angekündigte Thema „Networking…“ hin ausgerichteten Fragerunde („benutzen Sie ein Handy… wer von Ihnen hat schon einmal von sozialen Netzwerken gehört… waren Sie schon einmal im Internet… Ihr Nachbar kann auch ein Teil ihres sozialen Netzwerkes werden. Sprechen Sie ihn einfach an…“) wurde ich zusammen mit einem 55jährigen arabischstämmigen Doktor der Philosophie1, einer allein erziehenden Mutter von drei Kindern2, einem ehemaligen Casinomitarbeiter3, einem sich selbst als Kommunisten bezeichnenden Serben4, einer jungen Frau aus Afrika5, einer sehr unglücklich dreinblickenden Frau6 und ein paar anderen Namenlosen (von den 20 vorgeladenen Personen konnten sich neun die Selbstachtung leisten und sind gleich daheim geblieben) dazu genötigt, soziale Situationen in einem Rollenspiel nachzustellen. Die Aufgabe bestand darin, z.B. in einer Kneipe ein Gespräch mit einer fremden Person zu beginnen, um in kürzester Zeit – „unaufdringlich, aber zielgerichtet“ – mit dem jeweiligen Gegenüber auf das Thema Lohnarbeit zu sprechen zu kommen. Nach dem Rollenspiel gab es eine Manöverkritik. „Bestimmen Sie in Ihrem sozialen Netwerk die relevanten Knotenpunkte und platzieren Sie sich in ihrer Nähe“. Frau Doktor P. glaubt an diese Formeln – so scheint es – , und sie verbreitete weiteres entsprechend allgemeinplätzliches Geschwätz. Mit dem serbischen Kollegen – der während des Vortrags mehrfach lautstark anmerkte, dass er die ganze Veranstaltung für „Sklavenpropaganda“ halte – lieferte sie sich einige kurze verbale Gefechte, die sie mittels des kaltschnäuzigen Verweises auf die „Mitwirkungspflicht“ allesamt für sich entschied. Nach drei Stunden ging es mir durch bloßes Zuhören genauso mies wie dem abgewatschten Deliquenten.
Nach der Pause ging es ans Eingemachte. Ein zehnseitiger Katalog wurde verteilt, in dem die bisher vermittelten Networking-Weisheiten zusammengefasst waren. Mit einer Heftklammer angehängt waren zwei Formblätter, auf dem wir nun Personen aus unserem Bekanntenkreis eintragen sollten0. Die arbeitsplatzmäßige Relevanz der einzelnen Sozialkontakte musste in einer Skala von eins bis sechs benotet und mit individuellen Vermerken pedantisiert werden.
Unmut regte sich im Publikum. Die dicke Frau, die vor mir saß, drehte sich hilfesuchend zu mir um und lächelte verschämt, als wolle sie fragen: „Ist das ernst gemeint?“. Die Afrikanerin meldete sich und teilte in schlechtem Deutsch mit, dass sie sich weigere, ihre Freundinnen und Freunde auf dem Blatt einzutragen. Der serbische Kommunist sprang ihr zur Seite und verkündete, sein Bekanntenkreis bestände sowieso nur aus Arbeitslosen, und dass deswegen dort keine Jobs zu holen seien, und die Schreibarbeit somit umsonst wäre. Frau Doktor war an der Grenze ihrer sozialtechnischen Fähigkeiten angelangt, und an diesem Tag brachte sie auch niemanden mehr dazu, bei einem weiteren Rollenspiel mitzutun („Knotenpunkte“ kennen lernen in der U-Bahn!7). Wir verbrachten den Rest des Seminars mit dem verordneten Lesen der von ihr selbst zusammengestellten Networking- Broschüre.

„Gesundheit und Stressbewältigung für die erfolgreiche Jobsuche“. Mit der selben Besatzung wie eine Woche zuvor saß ich erneut in dem schlecht belüfteten Seminarraum. Die Frau im grauen Rock in ihrer Rolle als Mentorin des Prekariats vor der Tafel. Begonnen wurde wieder mit einer Fragerunde. Ausschließlich Suggestivfragen, die einem einzigen Zweck dienten, nämlich weiter Propaganda zu verbreiten. „Was können Sie an ihren Essgewohnheiten verändern, um gesünder zu leben?“. Gerne wäre sie nach dieser Frage auf die Ernährungspyramide zu sprechen gekommen, die sie neben der Tafel auf eine Leinwand projizierte. Leider wurde der gewünschte Ablauf erneut torpediert. „Ich kann gar nichts tun, weil ich als Hartz4-Empfängerin nicht genug Geld habe und immer das kaufen muss, was ich mir gerade leisten kann“, vermeldete eine der Frauen, und nachdem auch der nächste sich weigerte, die gewünschten Antworten zu geben, und stattdessen begann minutenlang über verschiedene Ernährungsphilosophien zu referieren, die er sich vermutlich auf der GMX-Startseite und bei Wikipedia zusammengelesen hatte, gab die Seminarleiterin genervt auf und switchte zur nächsten Frage. „Was können Sie gegen den alltäglichen Stress tun, den wir alle kennen? Stellen Sie sich doch bitte einmal eine alltägliche Situation vor. Sie fahren mit dem Auto auf der Landstrasse und vor Ihnen fährt ein Traktor…“. Sie hatte ihren Satz noch nicht zu Ende gebracht, da wurde sie schon aus dem Publikum unterbrochen. „Als Arbeitslose dürfen wir doch gar kein Auto besitzen. Das ist doch schon seit Jahren Gesetz“. Einige lachten und die Laune der Dame verschlechterte sich zusehends. „Wenn Sie hier weiter stören wollen, kann ich sie auch nachhause schicken und ich berichte Ihrem Sachbearbeiter von Ihrem Verhalten… das fängt ja gut an heute“. Nach dieser kleinen unplanmässigen Aufregung sammelte sie sich kurz, blickte in ihre Unterlagen und fuhr mit der nächsten Frage fort. „Sagen Sie mir doch bitte einmal ein Beispiel, wie Sie Ihr soziales Umfeld verändern könnten, um in Zukunft weniger Stress zu haben“. Der studierte Araber meldete sich und gab eine Antwort, die ebenfalls auf Zustimmung im Publikum traf. „Ich kann an meinem sozialen Umfeld überhaupt nichts ändern. Wenn ich auf die Strasse gehe und die ganzen armen Leute sehe, dann geht es mir schlecht. Ich kann nichts ändern, dafür bräuchte ich viel Geld, um den Leuten etwas geben zu können“. Unvermittelt fing sie an zu brüllen. „Wir diskutieren hier nicht politisch. Wir sprechen hier nur über Dinge, die Sie an sich selbst verändern können, um stressfreier zu leben, damit Sie bald einer geregelten Tätigkeit nachgehen können“.

Damit war die inhaltliche Stoßrichtung dieser Veranstaltung klar zu erkennen. Das allgemeine Elend der kapitalistischen Produktionsweise, das es einem zum bloßen Arbeitskraftbehälter degradierten Menschen sukzessive verunmöglicht, weiterzumachen wie bisher, ohne dabei ernsthaften psychischen und physischen Schaden in Kauf nehmen zu müssen, wird in ein persönliches, von jedem selbst zu lösendes Problem der richtigen Lebensführung umgedeutet8. Das auf entsprechende Selbstoptimierung getrimmte bürgerliche Konkurrenzsubjekt – in diesem Fall glaubwürdig verkörpert durch Frau Doktor P. – entlässt niemanden aus dem selbst geschaffenen Hades und verfolgt als Wächter der Totenwelt Jene, die sich anschicken, aus diesem Feuerkreis der Selbstentfremdung zu entfliehen. Wenn es mir schlecht geht, soll es dir auch schlecht gehen, lautet das unausgesprochene Credo der „Leistungsträger“. Deren Widerpart, die Mitglieder der industriellen Reservearmee, die (Lohn-)Arbeitsscheuen, die bis zur Arbeitsunfähigkeit Beschädigten, diejenigen, die hartnäckig auf das beharren, was sie für eine „würdige Entlohnung für ehrliche Arbeit“ halten, und all die Anderen, die aus mannigfaltigsten Gründen nur fressen und nichts zur alltäglichen Reproduktion und Produktion des materiellen gesellschaftlichen Reichtums beitragen, müssen mittels Drohungen, Erniedrigungen, einem Leben in materiellem Mangel und anderer Quälereien zu befolgen lernen: Findest du keinen Job, weil auf dem Arbeitsmarkt deine Arbeitskraft nicht benötigt wird, bist du selber schuld. Drücke erneut die Schulbank, bilde dich weiter, nimm ab, lebe gesund, sei immer freundlich, friß Dreck und nenne es ein Festmahl… Kurz: Recke, strecke, strebe und geissel dich, rede den Leuten nach dem Mund, tritt nach unten, buckel nach oben, räume die Konkurrenz aus dem Weg, schreibe Bewerbungen und ertrage jede Ablehnung,… aber denke bloß nicht darüber nach und thematisiere auf keinem Fall den Umstand, dass die eigene, ausschließlich an den Verwertungsbedürfnissen des Kapitals gemessene, objektive Überflüssigkeit, die sich tagtäglich schmerzhaft ins Bewusstsein drängt, etwas mit dem menschenfeindlichen Charakter der gesellschaftlichen Verhältnisse und der zugrunde liegenden kapitalistischen Produktionsweise zu tun hat. Schwindel nicht bloß, glaube an den Schwindel!9
Von dieser bürgerlichen Lebenslüge – in deren variationsreichen Erzählungen der Mensch immer wieder als Robinson, als vorgesellschaftlich lebender Einzelner figuriert – leben abertausende Lebenshilfebücherproduzentinnen und Ratgebersendungsmacher. Diese ideologische Vorstellung ist ein weit verbreiteter Allgemeinplatz, und Frau Doktor P. wollte sich diese Tatsache instinktiv zunutze machen, um die Seminarteilnehmerinnen und Teilnehmer über ihr individuelles Limit hinaus unter Druck setzen zu können10. Die Leute haben dieses Spielchen aber nicht mitgemacht. Für die allein erziehende Mutter von drei Kindern, für die junge Afrikanerin, für den arabischstämmigen Philosophen und alle anderen war die Schmerzgrenze erreicht. Keine Ideologie ohne materielle Basis. Das Geschwätz von Frau Doktor P. ging an ihrer Lebensrealität vorbei und damit blieb für sie jede Möglichkeit, den verlangten konstitutiven Akt des Selbstbetrugs nachzuvollziehen, verstellt.

Nach der Pause wurde Schlaflosigkeit als Quelle für alltäglichen Stress ausgemacht. „Was kann man tun gegen Schlaflosigkeit?“. Eine reguläre Wortmeldung vom serbischen Kommunisten: „Man kann die ganze Nacht fernsehen, wenn man arbeitslos ist. Morgens um zehn fallen die Augen schon von alleine zu“. Wieder Gelächter, wieder Geschrei vom Lehrerpult.
Nun begann sie, mit den existentiellen Ängsten und Wünschen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu spielen. Sie befragte die mehrfache Mutter (und das perfideste ist: Diese hatte zuvor berichtet, wie sie sich mit einem Nagelpflegeservice selbständig zu machen versucht hatte, nachdem sie der Mann verlassen hatte. Nach einer Pleite saß sie nun tief in der Schuldenfalle und musste zum Arbeitsamt gehen), ob sie nicht den Wunsch hege, ihren Kindern einmal einen Urlaub in fernen Ländern zu gönnen. „Ja, das wünsche ich mir schon, ich glaube nur kaum, dass ich mir das jemals leisten kann als Ungelernte“. Die Antwort klang gequält und das zuvor heiter gestimmte Publikum verstummte. Das zielsicher bediente Bild der treu sorgenden Mutter machte auf unterschiedliche Weise betroffen. Die Afrikanerin blickte verschämt auf den Boden und der arabischstämmige Philosoph (selber Vater von vier erwachsenen Sprösslingen) murmelte: „Du musst neu heiraten“.
Die bedrückende Zwangslage der Frau war allen klar, und jeder Mensch mit einem sozial verträglichen Mindestmaß an Empathie hätte an dieser Stelle mit der eindringlichen Fragerei aufgehört. Nicht so Frau Doktor P., die meinte einen Hebel zur Unterminierung des trotzig präsentierten Selbstbewusstseins gefunden zu haben. Zielsicher wendete sie sich mit der nächsten Frage an das gesamte Auditorium und an die Eltern unter uns im Speziellen. „Denken Sie doch einmal an das Alter. Sie wollen doch bestimmt einmal eine anständige Rente bekommen und nicht Ihren Kindern auf der Tasche liegen müssen?“. In das anschließende ratlose Gemurmel platzte erneut der Serbe und es entwickelte sich ein Streitgespräch zwischen ihm, dem Araber und der Seminarleiterin, das nach wenigen Minuten in wildes Geschrei mündete.
Serbe: „So etwas können Sie der Frau doch nicht sagen, Sie wissen doch ganz genau, dass sie auf dem Arbeitsmarkt nur schlecht bezahlte Zeitarbeit finden wird“.
Doktor P. : „Das ist nicht ganz richtig. Auch Zeitarbeitsfirmen zahlen inzwischen in vielen Branchen den Mindestlohn. Wir hatten hier gestern einen Vertreter von RXXX (eine große Zeitarbeitsfirma. Anm. der Verf.) und wären Sie hier gewesen, hätten Sie erfahren können, dass diese Klischees, die überall verbreitet werden, längst nicht mehr stimmen“.
Serbe: „Na und? Mehr als tausend Euro monatlich kommt nicht herum. Was man dabei an Beiträgen einzahlt, reicht niemals für eine gute Rente. Das Scheiss-Argument mit der Rente…, das ist sowieso eine Lüge.“
Doktor P. (in einem extrem herrischen Tonfall): „Wir diskutieren hier nicht politisch!“ (Nach einer kurzen Atempause und in einem schlagartig einsetzenden freundlicherem Tonfall:) „Anstatt hier immer nur rumzumeckern, sollte Sie lieber einmal von ihren Träumen sprechen und diese versuchen zu verwirklichen“.
Serbe: „Natürlich habe ich Träume. Ich wäre gerne Millionär“. Alle lachten.
Doktor P. : „Nein, machen sie sich einmal realistische Träume, Träume, die Sie hier und jetzt auch verwirklichen können“.
Araber: „Du verstehst das nicht, du musst davon träumen, für 850 Euro netto, 45 Stunden pro Woche zu arbeiten. Wenn du davon träumst, dann sind deine Träume realistisch“. Alle lachten ausgiebig, sogar die dicke Frau in der ersten Reihe. Der Araber und der Serbe, die nebeneinander saßen, gaben sich zur gegenseitigen Aufmunterung HighFive.
Doktor P. : „Bitte lassen Sie das“.
Ab diesem Punkt wurde es unübersichtlich, und es ist mir nicht möglich, die geführte „Diskussion“ wiederzugeben. Frau Doktor verbreitete noch weiteren gehässigen Unsinn und brüllte noch mehrfach durch den Raum „Wir diskutieren hier nicht politisch“. Auf die Androhung ernsthafter Sanktionen erwiderte der Serbe, dass ihm diese inzwischen scheißegal seien und das er gerne von Essensgutscheinen lebe, wenn er nur nicht noch einmal so eine „Sklavenpropaganda“ zu hören bekomme. Bezug nehmend auf die aktuelle Nachrichtenlage schob er noch hinterher, dass ihm die Bombardierung Kerneuropas mit Atombomben durch Nordkorea ganz recht sei – „…damit der Dreck hier ein Ende hat“.
Die Pause beendete diese Diskussion. Anstatt nach drei Zigaretten wieder brav in das Seminar zurückzukehren, schaltete ich mein Mobile aus, ging nach Hause und legte mich schlafen. Am nächsten Tag bin ich zu meiner Sachbearbeiterin auf dem Arbeitsamt gegangen und habe ihr mitgeteilt, das ich den bösen Spaß nicht mehr mitmache und lieber eine Kürzung in Kauf nehme, anstatt meine Lebenszeit und Nervenkraft weiterhin mit diesen „Seminaren“ zu vergeuden. Sie hörte sich meine Einwände geduldig an und teilte mir mit, dass sie meine Gründe für vernünftig halte und versprach mir, von einer Kürzung der Bezüge Abstand zu nehmen. Diese Reaktion hatte ich beileibe nicht erwartet. Da war sie wieder, die allgegenwärtige Willkür auf dem Arbeitsamt.

Anmerkungen:
0. Anhand ihrer Ausführungen und nach ein paar kritischen Fragen war leicht festzustellen, dass Frau Doktor P. offensichtlich prinzipiell nicht in der Lage ist, Freundeskreis und Bekanntenkreis, Geschäftskontakte und private Beziehungen begrifflich auseinander zuhalten. Ein erschreckendes Ausmaß an Selbstentfremdung!
1. Akademischer Titel nicht anerkannt, zu alt: Arbeitslos.
2. Scheinselbstständigkeit, Schulden, dreifache Mutter: Arbeitslos.
3. Arbeitgeber pleite: Arbeitslos.
4. Jahrelange konsequente Arbeitsverweigerung: Arbeitslos.
5. Wenig Deutschkenntnisse, schwarz: Arbeitslos.
6. Offensichtlich zu übergewichtig: Arbeitslos.
7. Ich versichere an dieser Stelle – wie auch bei dem Rest dieses Artikels – , dass ich mir nicht ein Wort ausgedacht habe, und dass sich alles so zugetragen hat, wie ich es hier beschrieben habe.
Leseempfehlungen:
8. „Das Gesetz endlich, welches die relative Übervölkerung oder industrielle Reservearmee stets mit Umfang und Energie der Akkumulation in Gleichgewicht hält, schmiedet den Arbeiter fester an das Kapital als den Prometheus die Keile des Hephästos an den Felsen. Es bedingt eine der Akkumulation von Kapital entsprechende Akkumulation von Elend. Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol, d.h. auf Seite der Klasse, die ihr eignes Produkt als Kapital produziert.“(Das Kapital, MEW Band 23, S. 675) – Dies alles soll also aus individuelle Fehler hervorgehen und zu beseitigen sein (Anm. der Verf.).
9.Es ist, als hätte dieser Abschaum Brechts „Flüchtlingsgespräche“ gelesen und sich Herrenreitters Methode zu eigen gemacht (Anm. der Verf.). „Kalle: „Ich erinnere mich, dass wir gleich am ersten Tag eine gute Lektion erhalten haben. Wie wir ins Klassenzimmer gekommen sind, gewaschen und mit einem Ranzen, und die Eltern weggeschickt waren, sind wir an der Wand aufgestellt worden, und dann hat der Lehrer kommandiert: „Jeder einen Platz suchen“, und wir sind zu den Bänken gegangen. Weil ein Platz zu wenig da war, hat ein Schüler keinen gefunden und ist im Gang zwischen den Bänken gestanden, wie alle gesessen sind. Der Lehrer hat ihn stehend erwischt und ihm eine Maulschelle gelangt. Das war für uns alle eine sehr gute Lehre, daß man nicht Pech haben darf. Ziffel: Das war ein Genius von einem Lehrer. Wie hat er gehießen? Kalle: Herrenreitter. …. Ziffel: … Ein wie feines Modell im Kleinen der aufgestellt hat mit zu wenig Bänken, und doch habt ihr die Welt, die euch erwartet hat, klar vor Augen gehabt nach so was. Nur mit ein paar kühnen Strichen hat er sie skizziert, aber doch ist sie plastisch vor euch gestanden, von einem Meister hingestellt! Und ich wett, er hat’s ganz instinktiv gemacht, aus der reinen Intuition heraus! Ein einfacher Volksschullehrer!“ (Brecht, Flüchtlingsgespräche, Gesammelte Werke Band 14, S. 1405f)
10. „Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht“. (Die deutsche Ideologie, MEW Band 3, S. 5-530)

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Ein paar Notizen zu unmöglicher Praxis

Jörg Finkenberger

1.
In der „Phase 2“ irgendwann schrieb ein gewisser Hannes Giessler neben anderem auch ein paar Worte über uns. Ich erinnere mich an Hannes Giessler von früher, habe aber nicht verfolgt, was er die letzten 5 Jahre getrieben hat. Die leipziger Szene ist mir ein Rätsel: man schaut einmal kurz nicht hin, und schon sind 5 Jahre vergangen und irgendwelche ehemaligen antideutschen Kommunisten haben ihre Liebe zum Reformismus entdeckt.

Ich habe seinen Artikel nicht genau gelesen, aber soviel ich verstanden habe, wirft er uns vor, wir verachteten den Reformismus.(1) Nun könnte ja Hannes Giessler durchaus ein oder zwei Dinge über mich wissen. Es gab eine Zeit, da waren Leute wie ich bei den Reformisten, und wir hielten Leute wie ihn ganz zurecht für Anhänger eines sterilen und völlig uninteressanten Linksradikalismus. Seine und meine Richtung hatten recht wenig gemein, und das war gut so und wäre wahrscheinlich auch so geblieben, wenn nicht 2001 alles verändert hätte.

Nach 2001 ist der Reformismus vollends unmöglich geworden. Nicht nur in dem allgemeinen, grundsätzlichen Sinn, in dem er schon immer unmöglich war, sondern in einem genaueren, sehr praktischen. Nicht, weil er nie und nimmer zum Sozialismus führt, sondern weil er 1. nicht mehr imstande ist, auch nur Linderung, Aufschub, ein Minimum an praktischer Vernunft zu organisieren, sondern das Gegenteil, und 2. seit 2001 endgültig vom Antisemitismus verschlungen worden ist. Vielleicht war es aber auch gar nicht der richtige Reformismus, der da verdarb? Vielleicht muss man einen neuen aufmachen? So etwas dachten sich bekanntlich auch die wackeren Recken der bayerischen IG Metall und die unverzagten Streiter um die Zeitschrift Sozialismus, die nicht müde werden, seit Jahrzehnten immer den gleichen Artikel zu schreiben, als sie eine neue SPD gegründet haben.

Nach 2003 ist eben nicht eine Linke entstanden, die zu irgendetwas gut war, sondern genau diese Linkspartei, die zur Bedeckung ihrer antisemitischen Blössen der Dienste unseres gemeinsamen Bekannten Voigt bedarf, und das ist kein Zufall, sondern hängt mit dem Innersten des Reformismus zusammen, von dem Giessler offenbar nicht so viel weiss. Komischerweise gibt es recht gute Analysen des Reformismus von innerhalb des Reformismus, aber die Göttinger Thesen sind tatsächlich rein für nichts geschrieben worden.

Steril und völlig uninteressant sind viele ehemalige Linksradikale geblieben. Und den Reformismus haben sie einmal aus Gründen abgelehnt, von denen sie jetzt vielleicht ahnen, dass es die falschen waren, aber andere hatten sie nicht; und jetzt wüsste ich nichts, das sie noch daran hindern soll, sich ihm mit Haut und Haaren zu ergeben. Das kommt, weil in ihren Köpfen Schablonen arbeiten.

2.
Noch ein schönes Beispiel dafür, was für hervorragende Ideen die radikale Linke hervorgebracht hat: 2000 hatte Gerhart Schröder die Bekämpfung des Nationalsozialismus zur Sache des Staates und der Mitte erklärt. Daraus zog man in Teilen derjenigen Fehlkonstruktion, die man Antifa nennt, den berechtigten Schluss, dass es nun so nicht einfach weitergehen könne.

Der Hauptteil der Kritik richtete sich gegen die zuweilen vertretene Lehre vom „revolutionären Antifaschismus“, die im NS ein Werkzeug kapitalistischer Klassenmacht sehen wollte und Antifaschismus in eine antikapitalistische Gesamtstrategie einbinden wollte. Dieser vollendete Wahnwitz wäre ja nur dann völlig richtig gewesen, wenn die Nazis damals welche gewesen wären, die das deutsche Volk mit Gewalt geknechtet hätten. Gerhard Schröder zeigte 2000 jedenfalls auch sehr eindrucksvoll, dass der Staat die Nazis keineswegs als Vortruppe braucht, und dass Konsens bis an den Rand der Auflösung jeder Opposition auch genau gegen diese durchgesetzt werden kann.

Die Kritik am „revolutionären Antifaschismus“ war trotzdem falsch.(2) Sie hat es möglich gemacht, dass an vielen Orten die Kontinuität antifaschistischer Recherche unterbrochen worden ist; sie hat an anderen Orten dazu geführt, dass nur noch irre Antiimperialisten aktiv waren; denn plötzlich fanden viele dieser fürchterlichen Hohlbratzen, die in solchen Organisationen den Hauptstrom zu stellen pflegen, Antifa-Arbeit ganz einfach unter ihrer Würde. Das macht jetzt schliesslich Günter Beckstein.

Die Republik aber hält sich zu diesem Zweck einige Dienste, und einer von denen, in Thüringen, hat jemanden hauptberuflich beschäftigt, der zu DDR-Zeiten hektografierte Ausgaben von „Mein Kampf“ vertickt hat, wie man bei einer zufälligen Hausdurchsuchung (!) herausgefunden hat, und der rätselhafterweise in einem Internetcafe sass, als diese Nazi-Truppe, für deren Überwachung Leute wie er bezahlt worden sind, dessen Betreiber erschossen hat. Und die NPD kann nicht verboten werden, weil die Dienste nicht riskieren wollen, ihrer unverzichtbaren Spitzel aus ihr abzuziehen. Wer unterwandert hier eigentlich wen?

Und das ist die Republik, das ist der Verein, den man 2000 für zuständig dafür erklärt hat, andere Leute vor den Nazis zu beschützen. Das ist das Gewaltmonopol, und es gibt Leute aus dieser früheren radikalen Linken, die heute sich dahin vernehmen lassen, so ein Gewaltmonopol sei eine im Prinzip gute Sache.

Mit den Prinzipien hat es aber seine eigene Bewandtnis. Viele haben welche, aber meistens keine guten. Meistens muss man sie gar nicht gross ändern, weil sie eh falsch waren. Es gibt merkwürdige Kontinuitäten, die auch einen Seitenwechsel überstehen: die meisten Leute haben als Angepasste gerade die selben Sachen nicht verstanden wie früher als Radikale.

Vielleicht sieht man mir jetzt nach, dass ich mich von manchen Leuten nicht mehr über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit von Praxis belehren lasse; von denen nämlich, deren Praxis tatsächlich unmöglich ist.

1 Ausserdem lehnen wir nach Giessler immer noch jede Bewegung unterhalb der Markierung unserer eigenen Vorstellung von einem grossen Umsturz ab. Bevor aber Occupy Occupy hiess, hiess es #spanishrevolution und Make Syntagma Tahrir, und die Narrheit, einen öffentlichen Platz zu besetzen und zu tun, als habe man damit schon fast die halbe Revolution, haben wir damals kritisiert, indem wir die Fehler kritisiert haben, die schon auf dem Midan al Tahrir gemacht wurden. Und wir wissen, dass diese Texte jedenfalls in Spanien gelesen worden sind; auch wenn wir nicht wissen, vom wem die Übersetzung stammt.

2 Der „revolutionäre Antifaschismus“ ist eine Form der Lehre vom Stamokap. Diese idiotische Lehre hat die Linke, als es sie noch gegeben haben könnte, sehr viel gekostet. Es ist natürlich niemandem eingefallen, ihn als genau das zu kritisieren. Die gängigste Kritik ist selber wieder nur neu gewendeter und umgenähter Stamokap; und wieviel Stamokap selbst noch in der gängigen „Ideologiekritik“ steckt, das will ich gar nicht untersuchen.

Nicht in Heft 3 abgedruckt

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»Arbeite viel […] und habe keinerlei Motivation«

INTERVIEW: PETRA DÖRNER

Petra Dörner: Deine EP, „Dinkelbrot & Ölsardinen“, die im April 2012 auf der Homepage deines panels „Antilopengang“ publiziert wurde, enthält sieben reguläre Tracks und zwei Bonuslieder. Du löst dich von dem subkulturellen Reim-Schema. Gut, das könnte man auch von Haftbefehl, Audio88 und Hiob behaupten, allerdings verzichtest du ganz auf Punchlines, auf die für Hip Hop üblichen Kettenreime und Vergleiche. Woher rührt die Motivation?

Danger Dan: Als Vertreter eines HipHop-fremden Magazins darf ich dir deine Unwissenheit in Bezug auf Rap-Handwerk ja nicht vorwerfen. Aber weder Haftbefehl noch Hiob lösen sich vom „subkulturellen Reim-Schema“. Deine anderen Aussagen stimmen leider auch nicht. Ich löse mich nur selten von gängigen Reimstrukturen, ich verzichte nicht auf Kettenreime und Punchlines, arbeite viel mit Vergleichen und habe keinerlei Motivation. Sorry, nächste Frage…

P: Du besingst im ersten Track, die „Ölsardinenindustrie“, eine Metapher und schilderst wie du auf das Fischernetz zu schwimmst. Das hört sich äußerst wohltunend an. Ich schwimme leidenschaftlich gerne, dein dazugehöriges Video drehtest du vermutlich an der Ost- oder Nordsee, bist du im Netz (nicht nur auf Youtube) gelandet? Wo und was ist die Ölsadinenindustrie?

D: Ehrlich gesagt, ich kann und möchte die Metapher im Lied gar nicht auflösen. Ich freue mich aber, dass du ein leidenschaftlicher Schwimmer bist, danke für die Information. Lass mich in Ruhe!

P: Nachdem du in deinem Video zur „Ölsadinenindustrie“ Konserven bewirbst, wie hoch ist eigentlich der Salzgehalt in den Konservenbüchsen? Worin unterscheiden sich die verschiedenen Markenprodukte? Gerne kannst du an dieser Stelle für Anbieter werben, ob in Sonnenblumenöl eingelegt oder nicht.

D: Ich kenne mich damit leider gar nicht aus. Ich habe noch nie eine Ölsardine gegessen. Aber ich finde Delphine süß.

P: Wirklich? Seelachs? Mich haben Delphine sowieso noch nie interessiert.

D: Ich habe nichts von Seelachs gesagt. Aber Seelachs gibt es so ja gar nicht. Der Fisch heißt in Wirklichkeit Köhler und wird aus Gründen der Verkaufsförderung Seelachs genannt, sobald er in das Netz der Seelachsindustrie geschwommen ist.

P: Die von mir schon angesprochenen gängigen Muster fehlen gänzlich. Ist das Album genauso viel Aufwand wie ein herkömmliches? Immerhin haben deine Crewmitglieder als Backroundsänger fungiert und stimmt es, dass dein Album im Zuge deiner Masterarbeit für „Angewandte Kommunikationswissenschaften und Anglistik“ entstanden ist?

D: Uiuiui, das sind aber einige Fehlinformationen. Da der Herausgeber dieses Blattes meinen Recherchen nach Jurist ist, bin ich davon ausgegangen, dass seine Mitarbeiter die Informationen, die sie zu veröffentlichen gedenken, prüfen und nicht einfach drauf los spekulieren. Um es richtig zu stellen: Meine Crewmitglieder haben nicht als Backroundsänger fungiert, ich habe nie eine Masterarbeit geschrieben, weder Kommunikationswissenschaften noch Anglistik noch sonst irgendwas studiert, du hast bislang diese ominösen „gängigen Muster“ gar nicht erklärt und ich habe ja auch gar nicht gänzlich auf im Rap gängige Muster verzichtet. Das ist aber keine gute Reputation für dieses Blatt. Die andere Frage kann ich nicht beantworten. Wir als Antilopen Gang haben keine Erfahrung mit herkömmlichen Alben; alles was wir bislang machten, war allerdings mit viel Aufwand verbunden.

P: Außerdem hast du so treffsichere und inhaltlich wertvolle Lines wie:

„Es ist so scheiße mit dieser Scheiße / (Denn) Meine verranzte Lieblingsbar geht pleite / Scheiße mit dieser Scheiße / Ey /“ (3 mal in Folge)

. Dieser Track verfügt nur über wenige bis gar keine Vergleiche. Was ist die Message? Oder ist die Message keine Message? Und du bringst die Message trotzdem so autark und pejorativ herüber, dass man sich wundert, wie authentisch sie in den Ohren der Studenten klingen. In Hip Hop Foren fragt man sich daher – wohlmöglich zu Recht –, ob du deinen Poetry Slam Auftritt vertont hast. Stimmt das?

D: Das stimmt natürlich auch nicht, ich habe nichts mit Poetry Slam am Hut. Allerdings gibt es, seit es die Antilopen Gang gibt, die wahnwitzigsten Spekulationen über uns im Internet. Und was soll das eigentlich immer mit den Vergleichen? Such‘ doch mal die Message und wenn du sie gefunden hast, dann schick sie mir per Email.

P: Du behauptest, im oben schon zitierten Song, „Meine Lieblingsbar (Scheisse)“, selbst mit avantgardistischen Reim-Schemen zu brechen. Ärgerst du dich deswegen, dass man deine Songtexte nicht versteht oder ist das der „Witz“ (lautes Lachen)?

D: Ich ärgere mich deswegen jeden Tag! (lautes lachen)

P: Man kann dir trotz alledem keine fehlende Struktur in der EP vorwerfen. Du kotzt dich auf die Art und Weise aus, wie man es sonst nur von Stammkunden der Currywurstbude kennt, ist das der Clou? Also nah an der Realität zu sein und daher so authentisch aus der „Unterschicht“ berichten zu können? In Politikerkreisen wird das m. E. als nah an der „Basis“ getitelt.

D: Das ist der Clou! (lautes, hysterisches, manisches Lachen und wilde Zuckungen, gefolgt von absoluter Stille und einer eingefrorenen Miene)

P: Mit deiner Hip Hop Combo versuchst du aktuell, seit eurem mittlerweile – unter angehenden Akademikern populärsten Song – „Fick die Uni“, die Zuhörerschaft wieder zu vergraulen. Gewissermaßen verfolgte die Vorgängercrew „Anti Alles“ gleiches Projekt. Das erinnert stark daran, wie ihr mit der hässlichen linken Szene vorsätzlich „abgeschlossen“ habt. Wobei das auch nicht den Umstand mildert, dass ihr hauptsächlich Auftritte in versifften Jugendzentren vor Antifas spielt. Werdet ihr auch künftig das Konzept verfolgen, sich über Nicht-Identifikation mit der Szene zu identifizieren?

D: Das halte ich wieder für eine Spekulation. Ich fürchte noch eher, dass es sich hier um eine Projektion handelt. Auf der Homepage eures unter journalistischen Aspekten recht fragwürdigen „Lifestyle Magazins“ versucht ihr, mit eurem – unter Antifaschisten populären – Artikel „Sehr geehrte Robbenbabys“ eure Leserschaft wieder zu vergraulen. Ich unterstelle feierlich, dass ihr euch in eurer Redaktion damit brüstet, mit der sogenannten „hässlichen Linken“ abgeschlossen zu haben. Wobei das nicht den Umstand mildert, das eure Zeitung überwiegend in versifften Jugendzentren und von (Post-)Antifas diskutiert wird. Anders als bei der Antilopen Gang, spielt die sogenannte „Szene“ in eurem Leben wahrscheinlich eine recht große Rolle. Was auf mich und evtl. Koljah, Panik Panzer und NMZS allerdings zutrifft ist der Umstand, dass ich mich nur damit identifizieren kann, sich mit nichts zu identifizieren. Außer mit den Antilopen, denn diese sind für mich ein Zufluchtsort, ein Freundeskreis, ein Team. Antilopen Gang, das ist etwas schönes, positives, lebensbejahendes.

P: Vielleicht kannst du gerade zum Schluss noch erläutern wie man die gepressten Konservenbüchsen partizipieren kann. Damit kann man sich sicherlich neben den zwei Bonustracks gleich ein handsigniertes Relikt der Kulturindustrie sichern. Wärst du so nett?

D: Dein rhetorisches Rumgegurke ist wirklich anstrengend zu lesen. Das versteht doch keiner. Du willst also ein Autogramm auf deiner CD haben, ja? Gerne. Erwähne das einfach im Bemerkungsfeld, wenn du das Bestellformular der CD-Version meines Albums auf http://www.antilopengang.de ausfüllst.

Ein viel öderes, aber weitaus informativeres Interview mit Danger Dan ist auf diesem Blog einzusehen: http://herrmerkt.blogspot.de/2012/04/mein-album-danger-dan-dinkelbrot.html

Danger Dan – Dinkelbrot & Ölsardinen, EP, 2012, 7 Euro oder kostenloser Download